Autor: Klaus Siegers
Klaus Siegers ist Vorsitzender des Vorstandes der Weberbank und verantwortlich für die Bereiche Strategie, Personal und Beratung institutioneller Kunden.
Das vorrangige Ziel der Europäischen Zentralbank ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. So lautet sinngemäß Artikel 127 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. „Vorrangig“ – ein interessanter Terminus, der zu weiteren Tätigkeiten einlädt. Und so heißt es dort auch weiter: „Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union.“ Angesichts einer kaum nennenswerten Inflation ist die Neben- längst Hauptaufgabe geworden. Die Preisstabilität – wir erinnern uns: das vorrangige Ziel – wird zur Manövriermasse erklärt nach dem Motto: Drücken wir mal ein Auge zu, „Preisstabilität“ ist relativ. Honi soit qui mal y pense.
Aber vielleicht täusche ich mich ja. Vielleicht bin ich als Banker voreingenommen in meiner Sorge um die Stabilität des Finanzsystems und die Altersvorsorge von Millionen von Sparern als Folge dieser experimentellen Zinspolitik. Börsen-Altmeister André Kostolany pflegte in diesem Zusammenhang auf die Regel der Wiener Kaffeehausgeiger zu verweisen: „Ka Göd – ka Musi.“ Ja, wenn doch das billige Geld von den Regierungen als Investitionschance einerseits und als ideale Gelegenheit für Strukturreformen andererseits genutzt würde ...
So oder so, wir müssen mit den Konsequenzen leben, die die Eingriffe der Notenbank mit sich bringen, nämlich der weitgehenden Abwesenheit von Zinsen für gute Schuldner und einem extrem niedrigen Zinsniveau für nicht so gute Schuldner. Man kann sich nur wundern ... Doch wie geht das weiter? Was ist in zwei, drei Jahren? Das Marktgeschehen rund um die wohl kommende Zinswende in den USA ist keine Blaupause für Europa, denn die USA sind zwar stark verschuldet, aber angesichts niedriger Steuersätze mit Handlungsmöglichkeiten ausgestattet, von denen die Krisenmanager Europas nur träumen können. Was macht die EZB denn, falls sie Erfolg hat und die Inflationsrate steigt? Wird sie drei oder vier Prozent Inflation tolerieren und damit zugeben, dass es ihr um Staatsfinanzierung ging? Oder wird sie ihrem Mandat folgen und riskieren, dass die Zinslast für einige Staaten untragbar wird? Kaum anzunehmen, dass die Ausschläge an den europäischen Märkten nicht heftiger ausfallen als in den USA. Dennoch: Der langfristige Zinspfad wird letztlich ein flacher sein. Eine der ökonomischen Theorien, die sich in der Praxis über Jahrzehnte bestätigt haben, ist die, dass der Realzins langfristig überwiegend vom Wachstum bestimmt wird. Da sich trotz der vielen Neuerungen in der Informationstechnik nichts an dem Trend von Dekade zu Dekade rückläufigen Wachstumsraten in den Industrieländern geändert hat, spricht viel für nachhaltig sehr niedrige Zinsen – zumindest in unserem Teil der Welt. Global agierende Unternehmen, die von den Wachstumszentren der Weltwirtschaft profitieren, werden ihre Gewinne aber deutlich mehr steigern können als das inländische Wachstum.
Und Aktien weisen anders als Anleihen keine Anzeichen nennenswerter Verzerrung durch die Notenbank auf, ihr Kurs-Gewinn-Verhältnis rangiert als einziges aller Anlageklassen ziemlich genau auf dem gleichen, mittleren Niveau, auf dem es vor der Finanzkrise war. Erneut lesen Sie von mir ein Plädoyer für die Aktie; die Höchststände der amerikanischen Börsen bestätigen die alte Weisheit „Don’t fight the Fed!“ – ist nicht Gleiches für Europa vorstellbar?
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