Christian Spuck

Ein Visionär für Berlin

Zur Spielzeit 2023/24 hat Christian Spuck die Intendanz des Staatsballetts Berlin übernommen. Sein Anspruch: die größte Tanzkompanie des Landes in eine Inspirationsquelle für die Kunstform Ballett zu transformieren.

SCHWARZ VERMUMMT STEHEN SIE REGLOS AN VERBLICHENEN WÄNDEN. Wie Trauerkaryatiden rahmen acht Tänzerinnen die Szene, lenken mit verkrümmten Fingern und verdrehten Köpfen die Blicke des Publikums auf einen leeren Stuhl in der Bühnenmitte. Dahinter starren der Hausherr im Frack und ein Dienstmädchen mit erloschenen Augen in den Zuschauerraum.

SEINE TANZADAPTION DES FRANZÖSISCHEN ROMANKLASSIKERS „Madame Bovary“ beginnt Christian Spuck mit dessen Ende – und irritiert das Premierenpublikum an der Deutschen Oper gleich mit einer Leerstelle. Denn den Selbstmord seiner Protagonistin Emma nimmt er vorweg, ohne sie zu zeigen. Dabei lässt er die letzten Zeilen des Romans aus dem Off sprechen, stellt Flauberts eindringliche Sprachbilder ins Zentrum: Emmas Sterben, ihren weit aufgerissenen Mund, den sich aufbäumenden Körper spiegeln die Tänzerinnen an der Wand in gespenstischer Slow Motion. Die Szene zeigt viel vom Stil Christian Spucks, der seine Ballette lieber Musiktheaterstücke nennt, Tänzer zu Skulpturen erstarren lässt oder sie wie Figuren im Gemälde eines düsteren flämischen Meisters anordnet. Kritiker warfen ihm deshalb vor, eher ein cleverer Galerist als der kreative Choreograf zu sein. Spuck zuckt mit den Schultern, Gegenwind müsse man aushalten. In seinen Stücken lässt er die unterschiedlichsten ästhetischen Ebenen miteinander korrespondieren. Für „Bovary“ liefern Flauberts geschliffene Worte den Bewegungsimpuls, der sich in kaum wahrnehmbarem Fingerspreizen zeigt und in Blicken, die prickelnde Walzerklänge im Orchestergraben entzünden – bis sie schließlich in ausufernden Pas de deux und sehnsüchtigen Hebefiguren Körper und Raum erobern.

SPUCK RÜCKT SEINE BRILLE über dem fein gestutzten Bärtchen zurecht. Eine vordergründige Künstleraura trägt er nicht vor sich her. Im dunkelgrauen Anzug zu lässigen Turnschuhen könnte er auch als Designer durchgehen. In Zürich habe man ihm, dem damals noch Leitungs-Unerfahrenen, zu Beginn seiner Intendanz prophezeit, nur einen Monat durchzuhalten. „Es wurden zehn Jahre“, sagt er und lacht. Mit ausverkauften Vorstellungen und immensem Publikumszuwachs, trotz oder gerade wegen sperriger Werke wie Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“.

ALS DER ANRUF AUS BERLIN KOMMT, mit dem Angebot, Deutschlands größte Tanzkompanie zu leiten, muss Spuck nicht lange überlegen. Die Herausforderung, dem legendären Berliner Staatsballett nach Leitungsquerelen und Rassismusvorwürfen zu neuem Glanz zu verhelfen, reizt ihn. Überhaupt: „Ich liebe Berlin, seine einzigartige Ost-West-Geschichte, die Möglichkeiten, Brüche!“, sagt Spuck. „Wo sonst mischen sich in einem Ballettabend Opernabonnenten mit Clubgängern und klassischem Konzertpublikum?“ Spuck schwärmt vom Grau der Berliner Platte, das ihn an den Waschbeton der Marburger Neubauwohnung erinnert, in der er seine ersten Kindheitsjahre verbringt. Seine Eltern, der Vater Arzt, die Mutter Keramikerin, legen Wert auf eine klassische Musikerziehung. Spuck spielt Klarinette, „täglich eine halbe Stunde Üben war Pflicht, egal was sonst passierte“.

DAS BALLETTVIRUS HABE IHN SPÄT ERWISCHT, erzählt Spuck. Da ist die Familie bereits nach Kassel umgezogen, er hat genug vom Fußballkicken mit den Nachbarjungs, das Theater interessiert ihn mehr als der Sportplatz. Seine Eltern schenken ihm ein Theaterabo, er improvisiert im Jugendtheaterklub und schwärmt von Kleists „Familie Schroffenstein“, inszeniert von Manfred Beilharz. Als Sechzehnjähriger sieht er bei den Nachbarn eine Fernsehübertragung von John Crankos Ballettinszenierung „Romeo und Julia“ – mit der großen Marcia Haydée. Ab diesem Moment ist er der Virtuosität, der Eleganz des klassischen Balletts verfallen, will unbedingt Unterrichtsstunden nehmen. Doch die Eltern drängen auf Abitur und Zivildienst – den Spuck in der psychiatrischen Abteilung einer Frankfurter Klinik ableistet. Der intensive Kontakt zu einem Autisten, der in einer hermetischen Sprach- und Bewegungswelt lebt, stellt Spucks bisherige Kategorien von Norm und Ästhetik infrage. „Ich habe dort gelernt, neu hinzusehen – auch zuzuhören“, sagt er. „Manchmal muss man zuhören, obwohl das Gegenüber schweigt.“ In Frankfurt sieht er zum ersten Mal Arbeiten des Choreografen William Forsythe, ist fasziniert von dessen radikal-abstrakten Körperarchitekturen, die Tänzer permanent beflügeln, über ihre physischen Grenzen hinauszugehen. „Ich wollte ihm unbedingt vortanzen, habe mich aber nie getraut!“ Mit 21, ohne besondere Trainingserfahrung, scheint er zu alt für eine Karriere als Profi. Hartnäckig beißt er sich durch, wird an der John-Cranko-Schule in Stuttgart angenommen. Seine tänzerische Laufbahn beginnt er in Jan Lauwers’ Needcompany und Teresa de Keersmaekers Ensemble Rosas. Schließlich schafft er es als letzter Tänzer, dessen Vertrag Marcia Haydée unterzeichnet, ins Stuttgarter Ballett, da ist er 23. Seit 1998 konzentriert sich Spuck auf seine Arbeit als Choreograf und arbeitet international mit den namhaftesten Ballettkompanien. Zahlreiche Preise küren seine Arbeiten, die Uraufführung „Poppea//Poppea“ wird 2010 zur besten Tanzproduktion europaweit gewählt und erhält 2011 den Faust-Preis.

FÜR SPUCK ZÄHLT DIE SUCHE. Auch jetzt, vor der dritten Vorstellung, hat er mit Weronika Frodyma, die Emma Bovary tanzt, wieder an einer Szene gefeilt. „Je mehr man mit einem Stück verwächst, desto größer werden die Fragen“, sagt er. Frodyma tanzte bereits unter seiner Vorgängerin, aber immer in der zweiten Reihe. Für „Bovary“ entdeckte Spuck sie als die Hauptdarstellerin, die er gesucht hatte. Nicht zuletzt wegen ihres Blicks. Jetzt feiert Frodyma ein sensationelles Debüt in dieser großen Rolle. Drei Viertel des alten Staatsballett-Ensembles hat Spuck übernommen, ein Viertel aus Zürich, Stuttgart, Amsterdam, Oslo und Wien mitgebracht. Fast alle der 79 Tänzer tanzen an diesem Abend eine eigene Figur, selbst in den großen Ensembleszenen.

NICHTS FÜRCHTE ICH SO SEHR WIE DAS URTEIL ‚SCHÖN‘. Das ist, als erstickte man den Widerspruch mit einem Samtkissen“, sagt Spuck mit überraschender Vehemenz. Daher sei er gewappnet für das „anspruchsvolle“ Berliner Publikum, vor dem ihn so viele gewarnt hätten. Über die ausverkaufte Premiere freut er sich trotzdem: „Es ist nicht leicht, die 1800 Plätze der Deutschen Oper zu füllen.“

GLEICH DREI OPERNBÜHNEN muss Spuck gerecht werden. Wo verwurzelt man sich da? „Überall“, antwortet er diplomatisch. Er genieße den Luxus, drei so individuelle Häuser bespielen zu dürfen, die alle nach unterschiedlichen Produktionen verlangen. Spuck mag die Kinoatmosphäre im Zuschauerraum der Deutschen Oper, der trotz seiner Größe so nahe an die Bühne heranrücke. Hingegen vermittle der tiefe Orchestergraben mit dem weißen Bühnenportal der prächtigen Staatsoper Unter den Linden Distanz. Das Schillertheater, in das die Komische Oper bis zum Ende ihrer Renovierung eingezogen ist, sei akustisch sehr fein umgerüstet worden. Bis zu 100 Vorstellungen wird das Berliner Staatsballett pro Spielzeit stemmen. Dafür will Spuck große, ikonische Choreografen wie William Forsythe nach Berlin holen, aber auch eigenwilligen Choreografinnen wie Sol León, Sharon Eyal, Crystal Pite und Marcos Morau eine Bühne bieten: „Das Staatsballett Berlin soll über Deutschland hinaus zur Inspirationsquelle werden – als kreierende Company.“ Er glaubt an die Kraft des klassischen Repertoires, das er neu erzählen will, aber auch für Umdeutungen und Abwege öffnen möchte: „Dafür ist es wichtig, den Zweifel als eigenständige Kategorie anzuerkennen.“

WIE WERONIKA FRODYMA DIE EMMA BOVARY TANZT – als madonnenhafte Erscheinung, die versucht, ihrer groben Umgebung zu entfliehen, und am Ende in unzähligen Varianten strauchelt, das Gesicht verzerrt wie in Edvard Munchs „Schrei“ –, zeigt, dass Christian Spuck mit seiner Kunst universelle Fragen aufwirft, nach Menschlichkeit, nach Liebe. Fragen, die dem Publikum unter die Haut gehen und zugleich den Zweifel nähren – an einer eindeutigen Antwort.

Text: Antonia Munding
Foto: © Marzena Skubatz
Datum: März 2024

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