Es darf noch etwas mehr sein

Die Start-up-Szene Berlins ist lebendig, vielseitig und umtriebig. Doch ist sie so divers, wie sie es sein könnte? Mit der „Startup Agenda 2026“ und dem „Chancenfonds“ will der Berliner Senat Impulse für ein Mehr an weiblichen Gründungen setzen. Kann die Hauptstadt zum Zentrum für Gründerinnen werden?

EIN FÜNFTEL ALLER START-UP-GRÜNDUNGEN in Deutschland geht inzwischen auf Frauen zurück. Schon ein Fünftel oder nur ein Fünftel? Für Dr. Gesa Miczaika ist die Sache klar: „Solange wir nicht bei mindestens 30 Prozent sind, können wir nicht von einer ausreichenden Entwicklung sprechen.“ Die 42-jährige promovierte Volkswirtin ist eine von drei Partnerinnen bei Auxxo Beteiligungen, Vorstandsmitglied im Bundesverband Deutsche Startups und Mitbegründerin des Auxxo Female Catalyst Fund sowie der Evangelistas, eines Zusammenschlusses von inzwischen mehr als 250 Angel-Investorinnen in Deutschland. In all diesen Funktionen und Umgebungen ist es das Bestreben der erfolgreichen Geschäftsfrau und zweifachen Mutter, diverse und nachhaltige Gründungen zu stärken und zugleich für die Sichtbarkeit der Defizite und Möglichkeiten in diesem Feld zu sorgen.

ANGESIEDELT IN BERLIN-MITTE, haben die Frauen mit dem 2021 aufgesetzten Auxxo Female Catalyst Fund inzwischen 25 Investments in ihrem Portfolio. Die Unternehmen haben jeweils mindestens eine Mitgründerin, die wiederum mindestens 20 Prozent der Gründeranteile besitzt. Das ist die Voraussetzung, um für ein Invest in Betracht gezogen zu werden. Die aktuellen Beteiligungen sitzen in Deutschland, aber auch in Frankreich, Großbritannien und Schweden, und befinden sich allesamt in der Pre-Seed- oder Seed-Phase. Warum ist Miczaika dieser Fokus auf diverse Gründungen so wichtig? Das hat mit dem Gender Bias zu tun, der Voreingenommenheit aufgrund des Geschlechts. „Dass Männer die Gründungen dominieren, ist offensichtlich. Als wir 2019 mit Auxxo anfingen, mussten wir allerdings feststellen, dass auch wir unseren eigenen Gender Bias ganz offenbar nicht abschalten konnten: 70 Prozent unserer Beteiligungen steckten wir in Firmen, die mindestens eine Gründerin dabeihatten. Wir hatten Frauen im Fokus, ohne dass das zu diesem Zeitpunkt unsere Absicht gewesen wäre.“

ÜBERHAUPT STRAHLT MICZAIKA eine pragmatische Dynamik aus: Sie verflucht das Bestehende nicht, sondern setzt sich kraftvoll und konstruktiv damit auseinander. Frauen gründen zu wenig? Unterstützen wir sie! Frauen investieren anders? Schließen wir uns zusammen, suchen wir uns Mitstreiterinnen! Hauptberufliche Aktivistin will Miczaika allerdings nicht sein, bei allem Willen zum Engagement brauchen Arbeit, Familie und Alltagsleben ihren Raum. Miczaika fordert das Mitwirken der Politik und sieht Initiativen des Berliner Senats wie die „Agenda 2026“ oder den „Chancenfonds“ als sehr wichtige erste Schritte. „Hier geht es auch um meinen Alltag, hier wird die Marschrichtung für die nächsten Jahre festgelegt“, sagt sie.

SO FORDERT SIE, worauf auch der Startup-Verband gemeinsam mit dem Verband deutscher Unternehmerinnen und dem Bundesverband der Freien Berufe dringt: Mutterschutz für Selbstständige, eine Flexibilisierung der Elternzeit, bessere Betreuungsangebote und Absetzbarkeit von Betreuungskosten. Dann klappt es auch mit dem Networking: Der „Female Founders Monitor“ hat die Bedeutung von Gründerinnen für das Start-up-Ökosystem untersucht und festgehalten, dass es an Netzwerken fehle. „Nach wie vor ist das Startup- Umfeld für viele Gründerinnen herausfordernd. Häufig fehlen Kontakte und Netzwerke, die gerade in der Frühphase so wichtig sind, um in entscheidenden Bereichen schnell voranzukommen.“ Die meisten Gründungen fallen in ein Alter, in dem zumindest die Frauen sich mit der Familienvereinbarkeit ihres Karrierewegs auseinandersetzen müssen. Wo Gründerinnen schon priorisieren müssen, um Job und Familie unter einen Hut zu kriegen, ist für weitere Dinge wie das Netzwerken kein Raum. Damit bleiben die Gründerinnen gegenüber ihren männlichen Counterparts immer im Hintertreffen. Sie erhalten bisher nur etwa ein Neuntel des Finanzierungsvolumens für männliche Gründer. Noch immer wird das damit begründet, dass Gründerinnen kritischer hinterfragt werden als Gründer, vor allem hinsichtlich der Vereinbarkeit ihrer Pläne mit ihrem Privatleben.

UNTER ANDEREM HIER WILL DER „CHANCENFONDS“ ANSETZEN. Laut Tagesspiegel soll er für 2023/24 rund sieben Millionen Euro umfassen. Enthalten sind ein speziell auf Frauen zielendes Gründerinnenstipendium und der Gründungsbonus. Ab Mitte 2023 können sich Frauen dafür bewerben und bis zu 60 000 Euro je Start-up erhalten. Wie im Berliner Koalitionsvertrag von 2021 vereinbart, sollen auch Netzwerkveranstaltungen, Coachingprogramme und Beratungsformen unterstützt werden. Gesa Miczaika sieht darin eine längst überfällige Aufgabe des Landes Berlin: Investorinnen und Investoren zusammenbringen, sie mit Gründerinnen vernetzen, Interessen sammeln und Kontakte ermöglichen. Das muss eine Stadt, die Startup-Hauptstadt sein will, können. Am „Roundtable Gründerinnen“ mit Wirtschaftsstaatssekretär Michael Biel kamen vor einigen Monaten Gründerinnen, IHK-Expertinnen, Fachfrauen der Investitionsbank Berlin sowie des Beratungsnetzwerks Weiberwirtschaft zusammen und entwickelten das Konzept für den „Chancenfonds“. Wenn der Staat fragt, wo die Bedürfnisse und Grauzonen liegen, und bei den Antworten hinhört, dann können Entwicklungen Form annehmen, die auch in Gesa Miczaikas Sinne sind.

Investorin Dr. Gesa Miczaika von Auxxio

Nilaxsa Yoganathan, 8returns-Mitgründerin

ETWAS ANDERS sieht die 32-jährige 8returns- Mitgründerin Nilaxsa Yoganathan die Bedeutung staatlicher Programme oder Landesinitiativen für sich selbst und ihre Arbeit. „Ich persönlich bin davon nicht tangiert“, sagt die gebürtige Münsteranerin, die seit mehr als zehn Jahren in der Gründerszene unterwegs ist. Die Wirtschaftswissenschaftlerin und Volkswirtin ist daran gewöhnt, dass in ihrem beruflichen Umfeld Frauen in der Minderheit sind – dennoch habe es in den Firmen, in denen sie vor ihrer eigenen Gründung gearbeitet hat, immer Frauen gegeben, immer auch in Schlüsselpositionen. Ehe Yoganathan 2021 das in Kreuzberg ansässige 8returns mitgründete, war sie bei Weltsparen, Trade Republic sowie bei 7mind beschäftigt. Zum Leben und Arbeiten kam nur Berlin infrage: „Die Stadt ist für mich die offenste, progressivste und liberalste in Deutschland“, sagt sie. Bis zur Gründerinnenhauptstadt, wie die „Agenda 2026“ und die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey sie anstreben, sei es aber noch ein langer Weg.

IHR UNTERNEHMEN, das Software für das Retourenmanagement von Onlinehändlern entwickelt, führt sie gemeinsam mit Amin Ben Said. Inzwischen hat 8returns mehr als 200 Kunden, Nilaxsa Yoganathans Team besteht aus neun Leuten. Bei den 20 Investoren ist ein klares Bild zu erkennen: Lediglich zwei von ihnen sind weiblich. Diese allerdings haben prominente Namen: Verena Pausder und Fabiola Hochkirchen investieren als Angels. Vom angesprochenen Netzwerkproblem fühlt Yoganathan sich weniger betroffen: Bei 8returns sind ehemalige Arbeitgeber beteiligt, Bekannte und LinkedIn-Kontakte haben sich eigenständig gemeldet, als die Nachricht raus war, das 8returns an den Start geht. Zu Netzwerkevents für Frauen wird Yoganathan oft einladen, in einer eventuellen Vorbildfunktion fühlt sie sich jedoch (noch) nicht wohl. Sie stimmt zu, dass eine erhöhte Sichtbarkeit von Frauen in der Gründerszene wichtig sei. „Es fehlt an Vorbildern, die das Gefühl vermitteln, keine Ausnahme in diesem Bereich zu sein.“ Dies allerdings bezieht Yoganathan nicht nur auf die Geschlechterfrage. Bei ihrer eigenen Gründung hat sie viel häufiger das Gefühl gehabt, dass ihr Migrationshintergrund und der ihres Mitgründers eine größere Rolle spielte als die Tatsache, dass sie eine Frau ist.

HIER WIRD AUCH GESA MICZAIKA DEUTLICH: „Das Drängen auf eine Förderung diverser Gründungen meint nicht nur die Förderung weiblicher Gründungen. Es geht um kulturelle Diversität, es geht um soziale Durchlässigkeit. Schon in den Schulen muss vermittelt werden, dass Gründungen eine Möglichkeit sind, die jedem offensteht.“ Da Frauen nachweislich impactgesteuerter gründen als Männer, bringen diese Initiativen nicht nur „mehr Wirtschaftskraft und mehr Wohlstand für alle“, wie der Berliner Wirtschaftsstaatssekretär Michael Biel im Tagesspiegel sagte, sondern ihre Unternehmen bringen einen gesellschaftlichen Nutzen, der der Hauptstadt nur zuträglich wäre. „Chancenfonds“ und „Startup Agenda 2026“ setzen den Anfang, einen guten noch dazu. In den Startlöchern werden die Frauen nicht lange stehen bleiben.

Text: Anne Rudelt
Foto: Roman Samborskyi / Shutterstock, © Neda Rajabi, © Artur Nastin
Datum: März 2023

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