Der Markt für Fleischersatzprodukte boomt. Der Trend zur vegetarischen Ernährung verändert die Lebensmittelindustrie und die Gesellschaft.
ES IST EIN DEAL MIT SYMBOLCHARAKTER: Rügenwalder Mühle, die deutsche Nummer eins für Fleischersatzprodukte („Veggiefleisch“), wechselt den Eigentümer. Das Unternehmen aus dem niedersächsischen Bad Zwischenahn ging Ende vergangenen Jahres mehrheitlich an den Kölner Lebensmittelkonzern Pfeifer & Langen.
SCHON SEIT 2014 FERTIGT DER EINSTIGE WURSTFABRIKANT immer mehr vegetarische Erzeugnisse. Zuletzt lag der Umsatzanteil der Fleischersatzprodukte bei 60 Prozent. Rügenwalder Mühle ist hier mit großem Abstand Marktführer in Deutschland. Der Marktanteil von einst mehr als 40 Prozent ist zuletzt allerdings geschrumpft – die Konkurrenz wächst. Nun will das Unternehmen gegensteuern. „Wir betrachten die Beteiligung als große Chance für unser Unternehmen“, sagt Rügenwalder-Aufsichtsratschef Gunnar Rauffus. Mithilfe von Pfeifer & Langen solle das Angebot weiterentwickelt werden, über den deutschen Markt hinaus.
DIE AUSWEITUNG DER PRODUKTPALETTE, die Expansion ins Ausland, der Wunsch nach Größe: Die Entwicklung von Rügenwalder steht exemplarisch für den Markt vegetarischer Produkte in Deutschland, der mit Macht aus dem Nischendasein herausbricht. Die vergangenen Jahre haben den Veggiefleischherstellern massive Zuwächse beschert. Im Jahr 2022 legte der Umsatz mit pflanzlichen Fleisch-, Wurst- und Fischalternativen laut der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung um rund 30 Prozent zu. Zwar hat sich das Wachstum 2023 verlangsamt, doch ergab sich in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres ein Umsatzplus von 11,3 Prozent zum gleichen Zeitraum des Vorjahres – trotz Inflation. Mit der rasant steigenden Bedeutung des Veggiemarkts ergeben sich neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Chancen. Mittlerweile entwickeln laut der NGO Good Food Institute weltweit rund 1150 Start-ups und etablierte Hersteller Alternativprodukte zu tierischen Lebensmitteln, meist aus proteinhaltigen Pflanzen wie Soja, Weizen oder Erbsen. In Deutschland sind es 70 junge Unternehmen, die sich mit innovativen Produkten für die Zukunft wappnen.
Veggiehauptstadt
Berlin ist dabei so etwas wie die Veggiehauptstadt der Republik. Das zeigt eine Ernährungsanalyse der Krankenkasse AOK. Demnach ernähren sich im bundesweiten Vergleich Berliner Kinder am häufigsten vegetarisch. 47 Prozent von ihnen essen nach Angaben ihrer Eltern selten oder gar kein Fleisch – im bundesweiten Durchschnitt ernähren sich 33 Prozent der Kinder fleischreduziert. 18 Prozent der Berliner Eltern gaben an, sie würden ihr Kind vegetarisch ernähren, deutschlandweit liegt der Schnitt bei zehn Prozent.
AUCH WIRTSCHAFTLICH ZEIGT BERLIN, wie viel Zukunftspotenzial im Veggiemarkt steckt. Allein elf Hersteller entwickeln hier ihre Fleischersatzprodukte: Project Eadon beispielsweise produziert Steaks aus Pflanzenmasse, im benachbarten Potsdam arbeitet Ordinary Seafood an Thunfisch, Lachs und Shrimps aus Erbsen und Soja. Und Formo aus Friedrichshain entwickelt Milchprodukte mithilfe von Mikroorganismen, indem Teile der Gensequenz einer Kuh in das Erbgut von Bakterien, Pilzen und Hefezellen eingefügt werden. Dabei entsteht ein pflanzliches Produkt, das vom Reifegrad und vom Schmelzpunkt her mit Kuhmilch vergleichbar ist und als Grundlage für fast die gesamte Käseproduktion dient. Investoren trauen Formo den ganz großen Wurf zu. Schon 2021 erhielt das Unternehmen die damalige Rekordsumme von 50 Millionen Dollar.
Berliner Käse
Zwar steht die Zulassung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit für den pflanzlichen Käse noch aus, doch Formo richtet den Blick schon weiter. In einer internationalen Studie hat das Startup Ende vergangenen Jahres geprüft, inwieweit auch Eiprodukte auf Proteinbasis von Verbraucherinnen akzeptiert würden. Das Ergebnis: Im Labor hergestellte Eiprodukte hätten auf dem Markt gute Chancen. 51 bis 61 Prozent der befragten Verbraucher wären bereit, dieses neue Lebensmittel zu probieren. „Unsere Entscheidung, in den Eiermarkt einzutreten, spiegelt die Fähigkeit unserer Endprodukte wider, mit konventionellen Produkten konkurrieren zu können. Die Gesellschaften auf der ganzen Welt werden sich der Realität der industriellen Tierhaltung bewusst“, beschreibt Formo-Geschäftsführer Raffael Wohlgensinger den Markt.
TATSÄCHLICH IST IN DEUTSCHLAND der meistgenannte Grund für den Kauf von Fleischersatzprodukten der ernährungsbewusste Ersatz von Fleisch- und Wurstwaren. Dies geht aus einer aktuellen Studie der Hamburger Marktforschungsgesellschaft Splendid Research hervor. Als weitere Gründe folgen die Förderung der eigenen Gesundheit sowie Neugier auf etwas anderes.
Wachstumstrend im Markt
Laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft essen nur noch 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland täglich Fleisch. 46 Prozent haben ihren Fleischkonsum bewusst eingeschränkt, zehn Prozent von ihnen konsumieren pflanzenbasierte Alternativen. Auf der anderen Seite haben 47 Prozent noch nie ein Fleischersatzprodukt ausprobiert. Veggiehersteller sehen hier ihre große Chance. „Der Markt für Fleischalternativen ist im Vergleich zum Fleischmarkt immer noch recht klein – hier liegt also weiterhin viel Ausbaupotenzial“, sagt Rügenwalders Kommunikationschefin Claudia Hauschild. „Wir gehen davon aus, dass sich ein genereller Wachstumstrend im Markt der veganen und vegetarischen Fleischalternativen auch weiterhin fortsetzen wird, und sehen in ihm daher einen Zukunftsmarkt mit großen Weiterentwicklungs- und Wachstumschancen.“
DOCH DIESER MARKT IST MITTLERWEILE SEHR UMKÄMPFT. Immer häufiger entscheidet der Preis darüber, wer sich dauerhaft etablieren kann. Laut Splendid Research kaufen 80 Prozent derjenigen, die Veggieprodukte verwenden, im Supermarkt. Im Herbst vergangenen Jahres hat der Discounter Lidl Fleischersatzprodukte herkömmlichem Fleisch preislich angeglichen. Viele andere Supermarktketten zogen prompt nach. Im ausgerufenen Preiskampf dürften sich vor allem größere Anbieter wie Rügenwalder und Gutfried als robust erweisen.
Fleisch aus dem Labor
Während die etablierten Anbieter von Fleischersatzprodukten aus Soja um Marktanteile ringen, zeichnet sich bereits ein neuer Trend ab, der den Veggiemarkt langfristig verändern könnte: „Kultiviertes Fleisch“ wird im Labor gezüchtet. Dazu entnimmt man einem Rind oder Schwein Muskelzellen. Die Stammzellen aus dem Fleischgewebe werden isoliert und dann vermehrt. Vegetarisch sind diese Produkte nicht, auch wenn dafür kein Tier geschlachtet werden muss. Marktforscher trauen diesem In-vitro-Fleisch den Durchbruch bei den Verbrauchern zu. Eine Prognose des Marktforschungsunternehmens AT Kearney zufolge könnte kultiviertes Fleisch bis zum Jahr 2040 bis zu 35 Prozent des Gesamtumsatzes von Fleisch und Fleischalternativen ausmachen.
BIS DAHIN IST ES NOCH EIN WEITER WEG. Bisher haben außer den USA und den Niederlanden nur wenige Länder eine Marktzulassung für kultiviertes Fleisch erteilt. Zudem ist es derzeit sehr teuer, die Produktion nicht skaliert. In Singapur sind bereits einige Produkte auf dem Markt. In der EU indes dürften nach Einschätzung des Kompetenzzentrums für Ernährung in Bayern noch mehrere Jahre vergehen, bis es so weit ist.
ALS ERSTES UNTERNEHMEN hat das Heidelberger Start-up The Cultivated B im vergangenen September eine EU-Zulassung für eine Brühwurst beantragt, die aus kultiviertem Fleisch und veganen Zutaten besteht. Geschäftsführer Hamid Noori geht es nach eigenem Bekunden nicht nur um geschäftlichen Erfolg. „Wir brauchen einen neuen Blick auch auf die Landwirtschaft, die zukünftig mit weniger Ressourcen auskommen muss“, sagt er. „Es ist unser Ziel, einen dauerhaften Zugang zu hochwertigem, nachhaltigem Fleisch für alle zu gewährleisten.“
Text: Andreas Schulte
Fotos: © Andrew Rakov / Shutterstock, © Formo
Datum: März 2024
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