Ist das wirklich Müll?

18 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jedes Jahr in der Tonne. Berliner Start-ups wollen der Verschwendung ein Ende bereiten – in den Überschüssen der Konsumgesellschaft entdecken sie neue Geschäftschancen.

Es kann turbulent werden am Lebensmittellager, das Sprk Global in Berlin-Tempelhof zwischen Autowerkstatt, Tankstelle und Baustoffhandel betreibt. Bis zu 600 Menschen holen hier täglich „Überraschungskisten“ mit Kühlprodukten, Trockenwaren oder Obst und Gemüse ab. Acht Euro kostet eine Kiste, für deren Inhalt man im Supermarkt mindestens das Doppelte zahlen würde. Die Besonderheit: Es sind Produkte, die fast im Müll gelandet wären – aussortiert von Großhändlern und Erzeugern, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum bald abläuft. Oder weil sie sonst keinen Abnehmer gefunden hätten. 

Sprk-Global-Gründer Alexander Piutti blickt zufrieden auf das Treiben im Gewerbegebiet. Das Start-up wurde im März 2020 gegründet, kauft systematisch überschüssige Lebensmittel auf, verkauft sie an Großküchen und über Partner auch an Endverbraucher weiter. Gewinnen sollen dabei alle: die Produzenten, bei denen zusätzliche Erlöse an die Stelle von Entsorgungskosten treten, die Abnehmerinnen, die Waren günstiger einkaufen können, und das Start-up, das als Zwischenhändler mitverdient. „Mit Weltverbesserungsromantik kann man nicht viel bewegen“, sagt Piutti. „Es muss sich für alle Parteien lohnen.“ 

Lebensmittel retten – und dabei Geld verdienen: Diese Mission inspiriert mehr und mehr Unternehmen. Eine Keimzelle ist Berlin. Wenige Meter neben Sprk Global hat Sirplus seinen Sitz. Das Start-up verkauft einzelne gerettete Produkte und Abo-Boxen über einen Online-Supermarkt. Mit 50 Vollzeitkräften erwirtschaftete das Unternehmen nach Angaben des Gründers Raphael Fellmer 2022 einen Umsatz von 3,3 Millionen Euro, für dieses Jahr ist eine Verdopplung geplant. Ein paar Kilometer südwestlich in Mariendorf sitzt Rettergut – ein junges Unternehmen, das überschüssige frische Lebensmittel in haltbare Produkte wie Aufstriche, Suppen oder Pesto umwandelt. Der schwedische Online-Supermarkt Motatos, in den Wagniskapitalgeber bereits 130 Millionen Euro investiert haben, hat in Berlin seine Deutschlandzentrale, ebenso der digitale Marktplatz Too Good To Go aus Dänemark.

Alexander Piutti

Zwischen Idealismus und Gewinnstreben 
Mit ihrem unternehmerischen Ansatz bringen die Start-ups neuen Schwung in den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung – ohne darauf zu warten, dass sich die Politik bewegt. Zwar will Deutschland seine Lebensmittelabfälle bis 2030 halbieren und plant, das sogenannte Containern – also das Herausfischen von Lebensmittel aus Abfalltonnen – zu legalisieren. Doch eine stimmige Gesamtstrategie vermissen Expertinnen noch. „Nötig wäre ein umfassendes Lebensmittelabfallgesetz für die gesamte Lieferkette vom Feld bis zum Supermarktregal“, sagt Piutti. Jahr für Jahr landen in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, die Deutsche Umwelthilfe geht sogar von 18 Millionen Tonnen aus. Etwa die Hälfte ist Schätzungen zufolge vermeidbar.

Lange haben sich vor allem Ehrenamtliche und gemeinnützige Organisationen des Problems angenommen. Dazu gehören die 1993 in Berlin gegründeten „Tafeln“, die Ausschussware von Supermärkten an Armutsbetroffene weiterverteilen. Etabliert ist auch die Organisation Foodsharing e. V., in der Freiwillige öffentlich zugängliche Essenskörbe und Kühlschranke befüllen. Mitaufgebaut hat Foodsharing vor zehn Jahren Sirplus-Gründer Fellmer, der selbst eine Zeit lang als „Mülltaucher“ ohne Geld gelebt hat. „Ich träume von einer Welt, in der alle genug zu essen haben“, sagt der 39-Jährige. Es passe nicht zusammen, dass so viele Menschen Hunger leiden und gleichzeitig gigantische Mengen Lebensmittel vernichtet werden.

Dass er seine Vision nun mit einem gewinnorientierten Start-Up vorantreibt, hält Fellmer für keinen Widerspruch. „Mit Freiwilligkeit und Ehrenamt kommen wir nicht schnell genug voran.“ Über einen professionell gestalteten Onlineshop erreiche man andere Zielgruppen als mit Essenskörben. Eine Konkurrenz zu den Tafeln oder Foodsharern gebe es angesichts des Überangebots nicht: „Wir kümmern uns vor allem um Waren, die es gar nicht erst in den Einzelhandel schaffen“, sagt Fellmer. Dazu gehören etwa Produkte mit Fehlern auf der Verpackung. Sirplus verkauft Reis, Nudeln oder Konserven zudem auch, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum schon überschritten ist. Anstelle des Herstellers übernimmt das Start-up dann die Garantie dafür, dass die Waren noch genießbar sind – die Chargen werden dazu von den Mitarbeiterinnen sensorisch geprüft.

Raphael Fellmer

Marktplätze bringen Erzeuger und Abnehmer zusammen
Auch das 30-köpfige Team von Sprk Global hat es auf Lebensmittel abgesehen, die schon bei Landwirten, Großhändlern oder in Zentrallagern aussortiert werden. Dort komme es regelmäßig zu Überproduktionen, so Piutti. Wenn etwa die Kartoffelernte witterungsbedingt besonders üppig ausfällt, die angestammten Abnehmer des Landwirts aber dennoch nicht mehr nachfragen. Oder wenn in einem verregneten Sommer die Biernachfrage im Handel gering ist, die Brauereien aber wie gewohnt weiterproduziert haben. Auch Obst, das es aus optischen Gründen nicht in den Supermarkt schafft, ist ein Beispiel. Der Tech-Unternehmer hat es sich zur Aufgabe gemacht, für solche Überschüsse Abnehmer zu finden: „Wir schaffen einen Sekundärmarkt für Lebensmittel.“

Der Lagerverkauf an Endverbraucher ist dabei nur ein Nebengeschäft. Vor allem zielt Sprk Global auf lebensmittelverarbeitende Betriebe – im Berliner Raum zählen das 25hours-Hotel Bikini, der in Großbeeren ansässige Obstsalathersteller Mirontell, aber auch gemeinnützige Einrichtungen wie die Arche oder das SOS-Kinderdorf zu den Abnehmern. Noch sei die Vermittlung mit viel manueller Arbeit verbunden, räumt Piutti ein. Ziel des Start-ups ist es, zu einem digitalen Marktplatz zu werden: Produzentinnen sollen Überschüsse auf der Softwareplattform melden – passende Abnehmer könnten künftig automatisch versorgt werden. „Solche Melde- und Distributionsmöglichkeiten fehlen bisher“, sagt der Gründer.

Mit einer ähnlichen Grundidee hat Too Good To Go bereits Erfolg – das dänische Start-up setzt in der Wertschöpfungskette aber später an.

Über den Marktplatz können Betriebe Lebensmittelüberschüsse lokal direkt an Endverbraucher vermarkten. Um die 14 000 Firmenkunden zählt das Start-up eigenen Angaben zufolge in Deutschland. Sprk Global etwa nutzt die Plattform für seinen Lagerverkauf, vor allem finden sich in der App aber Bäckereien, Lebensmittelläden und Gastronomiebetriebe. Cafés, Restaurants oder Hotels bieten dort etwa übrig gebliebene Sandwiches oder Reste vom Buffet zur Abholung an – zu einem Bruchteil der Preise auf der Speisekarte. Das Potenzial ist groß: Der offiziellen Statistik zufolge werden nur in Privathaushalten mehr Lebensmittel entsorgt als in der sogenannten Außer-Haus-Verpflegung.

Satt werden ohne Puffer
Immerhin: Das Problembewusstsein in dem Sektor nimmt zu – auch unabhängig von den Start-ups versuchen Gastronominnen und Kantinenbetreiber, ihre Überschüsse zu reduzieren. Oft sind interne Nachhaltigkeitsziele der Anlass, doch auch betriebswirtschaftliche Erwägungen spielen eine Rolle: Angesichts steigender Einkaufs- und Betriebskosten ist der Kostendruck zuletzt stark gestiegen. Der effizientere Umgang mit Ressourcen zahlt sich deswegen finanziell schnell aus. Knapp 140 Betriebe haben sich bundesweit in einer von der „Kompetenzstelle Außer-Haus-Verpflegung“ koordinierten Initiative dazu verpflichtet, ihre Speisereste messbar zu reduzieren.

Unter den Teilnehmern in Berlin ist die Charité, bei der täglich Mahlzeiten für rund 4500 Patienten und Mitarbeiterinnen zubereitet werden. Im Rahmen der Initiative hat das Krankenhaus damit begonnen, die Abfälle systematisch zu erfassen: Essensreste von Tabletts, Auslagen und Töpfen wurden genau abgewogen, verpackte Lebensmittel wie Portionsbutter abgezählt. „Durch die Daten konnten wir identifizieren, wo welche Überschüsse abfallen“, berichtet Brit Schulz-Lahmann, bei der Krankenhaustochter Charité Facility Management für die Patientenverpflegung zuständig. „Dann haben wir damit begonnen, den Puffer zu verkleinern.“ Gekocht und eingekauft werden soll nur noch so viel wie nötig.

Bemerkbar macht sich das etwa in der Kantine: Die Auswahl ist zwar immer noch groß – doch kurz vor Betriebsschluss kann es nun vorkommen, dass einzelne Menüs ausverkauft sind. Optimierungspotenzial hat die Charité auch bei der Patientenverpflegung ausgemacht. Eine Stellschraube sind neue Bestellzettel: Die Patientinnen können nun beispielsweise zu ihrem Brötchen nicht mehr auf Verdacht vier verschiedene Aufstriche bestellen, sondern müssen sich für einen entscheiden. Der Lohn der Mühen: Im vergangenen Jahr konnte die Menge der Speisereste bereits um ein Drittel gesenkt werden, das Krankenhaus spart dadurch einen sechsstelligen Betrag. „Satt werden trotzdem alle“, sagt Schulz-Lahmann.

Text: Steffen Ermisch
Fotos: © Ekaterina Voitik /Alamy Stock Foto, ©  SPRK.global GmbH, © Hassaan Hakim
Datum: Juni 2023

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