Gründen, aufbauen, verkaufen – und dann?

Ein Unternehmen aufzubauen gleicht einem Marathon:
Der Weg ist das Ziel. Doch was kommt nach dem erfolgreichen Exit? Auf jeden Fall ein neuer Lebensabschnitt, der Perspektiven und Pläne braucht.

TOM KIRSCHBAUM WUSSTE, WORAUF ES HINAUSLAUFEN WÜRDE, denn der Berliner Unternehmer hatte auf dieses Ziel hingearbeitet: Zehn Jahre lang hatte er mit seinem Co-Gründer Maxim Nohroudi das Unternehmen door2door aufgebaut, es von einem Zwei-Mann-Start-up zu einem Betrieb mit rund 100 Mitarbeitern gemacht. door2door bietet Technologien und Know-how zu Mobilitätsdiensten an, die eine Brücke zwischen Individualverkehr und dem ÖPNV schlagen sollen. Öffentliche Kleinbusse, die unter anderem in Münster, München und auf der Insel Sylt per App gerufen werden können, sind das Ergebnis der Arbeit von Kirschbaum und seinem Team. Dass diese Entwicklung irgendwann im Verkauf der eigenen Anteile münden würde, hielt er immer für wahrscheinlich – dies ist schließlich der Gang der Dinge für die meisten erfolgreichen Start-ups.
Trotzdem wusste Kirschbaum nicht so recht, wie er sich fühlte, als er Anfang 2022 beim Notar saß. Der besiegelte, was zuvor über mehrere Monate ausgehandelt worden war: door2door wurde von Swvl aufgekauft – einem Unternehmen mit Sitz in Dubai, das im arabischen Raum und in Südamerika an ähnlichen Mobilitätsangeboten arbeitet. „Nach dem Verkauf war ich weder euphorisch noch niedergeschlagen, eigentlich hatte sich für mich zunächst gar nichts verändert“, sagt Kirschbaum. Der gelernte Bankkaufmann und promovierte Jurist hatte zwar alle Anteile abgegeben, doch er blieb zunächst Geschäftsführer. Vor allem sollte er noch den Börsengang von Swvl in New York vorbereiten und begleiten. „In dieser Phase war ich weiter voll unter Strom. Es blieb gar keine Zeit, über mich nachzudenken.“

DOCH ALS NACH DEM NASDAQ-BÖRSENGANG DIE KORKEN KNALLTEN, veränderte sich etwas. Am nächsten Morgen ging Kirschbaum im Central Park joggen. „Obwohl ich New York gut kenne, habe ich mich komplett verlaufen und kam am entgegengesetzten Ende des Parks raus. Ich war mit meinen Gedanken einfach völlig woanders“, erzählt er. Auch in den folgenden Wochen, wieder in Berlin, merkte er, dass sich etwas verändert hatte. „Es hat sich anders angefühlt, plötzlich als Angestellter ins Büro zu fahren, es brannte nicht mehr das gleiche Feuer in mir.“ Kirschbaum war in weniger Entscheidungen eingebunden, nach und nach wurde der Betrieb um ihn herum strukturiert. Er entschied sich, das Unternehmen, das nicht mehr seines war, zu verlassen.
Auch Christian Wegner legte einen äußerst erfolgreichen Exit hin, als er 2019 seine letzten Anteile am Gebraucht-Medien-Portal Momox verkaufte. „Als ich das erreicht hatte, als ich dachte: ‚Jetzt habe ich Geld‘ – da fühlte sich das plötzlich an wie ein Loch“, sagt er im Gespräch mit dem Magazin Gründerszene

DASS ERFOLGREICHE GRÜNDERINNEN nach dem Verkauf ihres Unternehmens zumindest zeitweise ihren Antrieb verlieren, ist für Jan Schilling keine Überraschung. Der Professor für Personal- und Organisations- psychologie an der Hochschule Bielefeld beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen der Motivation von Beschäftigten und ihrer Bindung an Unternehmen. „Für Gründer bedeutet der Verkauf ihres Unternehmens eine gravierende Veränderung ihrer Rolle“, sagt Schilling. Aus seiner Sicht sind drei Faktoren in diesem Zusammenhang von Bedeutung: der Verlust von Kontrolle und Autonomie, die abnehmende Identifikation mit dem Unternehmen und das Erleben kognitiver Dissonanzen.
„Gründer sind häufig Menschen, denen Autonomie und das Gefühl, die Dinge selbst in der Hand zu haben, besonders wichtig sind“, so Schilling. Die Kontrolle über ihr Unternehmen abzugeben und zuzusehen, wie jemand anders die Entscheidungen trifft, könne deshalb schwierig für sie sein. Zudem identifizierten sich viele Gründer sehr stark mit ihrem Unternehmen. „Je mehr Zeit man in den Aufbau investiert hat und je bestimmender die Arbeit für das Leben ist, desto stärker verschmilzt die eigene Persönlichkeit mit dem Unternehmen.“ Entsprechend schwer falle vielen das Loslassen.

AUCH DAS ERLEBEN KOGNITIVER DISSONANZEN kann dazu beitragen, dass der Unternehmensverkauf eine schwierige Phase einläutet. Sie entstehen, wenn sich gleichzeitig auftretende Gedanken oder Wahrnehmungen widersprechen. Zum Beispiel kann nach einem Unternehmensverkauf die Freude über den Verkaufserlös auf das Gefühl treffen, einen Teil der eigenen Identität verloren zu haben. Dieser innere Konflikt wird oft von außen verstärkt: etwa wenn Menschen aus dem Umfeld die Meinung äußern, dass durch den Verkauf und die damit gewonnene Freiheit das Glück nun doch perfekt sein müsse, obwohl dies gar nicht dem tatsächlichen Empfinden entspricht. „Aus der Forschung wissen wir, dass sich das Erleben kognitiver Dissonanzen negativ auf das psychische Befinden auswirkt“, erklärt Schilling.

DER PSYCHOLOGIEPROFESSOR EMPFIEHLT vor allem zwei Dinge, um nach einem Verkauf nicht in ein Loch zu fallen. Erstens sollten die ehemaligen Unternehmer und Unternehmerinnen versuchen, die kognitive Dissonanz aufzulösen, indem sie sich vor Augen führen, was für den Verkauf gesprochen hat. „Die Entscheidung in ein positives Licht zu rücken kann sehr hilfreich sein“, so Schilling. Hierbei könne auch ein Coach unterstützen.
Davon abgesehen sei es entscheidend, sich bald ein neues Handlungsfeld zu suchen. „Gründer sind in der Regel Menschen, die eine neue Aufgabe brauchen und sich nicht auf ihre Rolle als Privatier beschränken wollen“, sagt Schilling. Dadurch könnten sie sich wieder selbst verwirklichen und ein Gefühl der Kontrolle zurückerlangen. Idealerweise baue sich mit dem neuen Projekt wieder eine Identifikation auf.

CHRISTIAN WEGNER HAT SICH NEUE PROJEKTE in einem vertrauten Markt gesucht, dem Re-Commerce. Er ist Mitgründer des 2022 an den Start gegangenen Secondhand-Anbieters Wisemarkt und hält Beteiligungen an der Re-Commerce-Plattform Mädchenflohmarkt sowie am Multichannel-Secondhand-Modehändler Reverse Retail. „Ich habe meine gesamte berufliche Laufbahn dem Re-Commerce gewidmet. Deshalb ist es für mich ein logischer Schritt, all das zu nutzen, was ich mir in den vergangenen 20 Jahren angeeignet habe“, sagt er in einem Interview mit dem Fachorgan TextilWirtschaft. Weitere Investments würden geprüft, denn er verfolge die Vision, „dass eines Tages mehr gebrauchte als neue Dinge verkauft werden“. Und der Markt, so der Unternehmer und Investor, könne noch einige weitere Teilnehmerinnen vertragen.
Ob ein allmählicher Ausstieg aus dem Unternehmen nach dem Verkauf – mit einem Zwischenschritt als angestellter Geschäftsführer oder als interner Berater – für Gründer besser ist als ein abruptes Ende, hängt von vielen Faktoren ab. Psychologieprofessor Schilling glaubt, dass ein langsamer Ausstieg vor allem für jene Personen vorteilhaft sein könnte, die sich zuvor extrem mit ihrem Unternehmen identifiziert haben: „In dem Fall könnte ein gewisser Entfremdungsprozess, der durch den Rollenwechsel ausgelöst werden kann, das Loslassen erleichtern.“

AUCH BEI TOM KIRSCHBAUM stellte sich nach dem Verkauf seiner Anteile an door2door zunehmend ein Gefühl der Entfremdung ein.
Seine Identifikation mit dem Betrieb an der Berliner Torstraße nahm ab. Kirschbaum gelang es, die Entwicklung nüchtern zu sehen. „Am Ende fiel es mir relativ leicht, einen Schlussstrich zu ziehen und door2door ganz zu verlassen – meine Mission schien mir schlichtweg erfüllt“, sagt er.
In ein Loch fiel er danach nicht. Auch weil seine Auszeit nicht lange währte. Schnell suchte sich Kirschbaum neue Projekte, insbesondere als Berater von etablierten Unternehmen und als Investor in junge Start-ups. Daneben bleibt dem 48-Jährigen nun viel Zeit für Familie und Hobbys. Kirschbaum hat wieder mit Tennis angefangen, engagiert sich in der Berliner Kunstszene und kann seine Kinder nachmittags zum Sport bringen – für all dies hatte er jahrelang keine Zeit. Und doch juckt es ihn schon wieder, ein neues, eigenes Projekt zu starten. „Ich kann mir gut vorstellen, noch einmal ein Unternehmen zu gründen – etwa im Bereich Nachhaltigkeit“, sagt Kirschbaum. Er sei zwar nicht mehr so rastlos wie früher, dafür verfüge er aber über viel mehr Erfahrung, von der er nun profitieren könne.

EINES JEDENFALLS habe sich Tom Kirschbaum für die nächste Gründung fest vorgenommen: den Weg der Unternehmensgründung und -entwicklung als Ziel zu betrachten – und nicht den Verkauf. „Auch wenn der Verkauf oft das Ziel eines erfolgreichen Start-ups ist, sollte man ihn nicht überhöhen.“ Das sei eine gute Strategie, nach dem Verkauf nicht in ein Loch zu fallen.

Text: Leonard Knollenborg
Fotos: © fran_kie / Shutterstock, © Julia Zimmermann, © Jan Blachura
Datum: November 2023

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