Autor: Jan Gengel
Jan Gengel ist Direktor der Weberbank und seit 2006 als Portfoliomanager im Bereich Vermögensverwaltung verantwortlich für das Rentenmanagement und die Kapitalmarktanalyse des Hauses. Als gelernter Bankkaufmann werden seine beruflichen Erfahrungen durch die akademischen Abschlüsse als Diplom-Volkswirt der Humboldt Universität zu Berlin, Certified European Financial Analyst (CEFA) und Certified International Investment Analyst (CIIA®) abgerundet.
Fast 40 Prozent beträgt der Kaufkraftverlust des Euro seit seiner Einführung für die Eurozone, und in Deutschland liegt er bei minus 38,3 Prozent. Die Kaufkraft ist, vereinfacht gesagt, der Wert des Geldes und zeigt auf, wie viele Güter wir uns mit einem bestimmten Geldbetrag kaufen können. Wichtig ist, sie nicht mit der Inflation gleichzusetzen, da die Kaufkraft auch durch andere Faktoren, beispielsweise Einkommens- und Steuerentwicklungen, beeinflusst wird. Grundsätzlich gilt, dass die Kaufkraft fällt, wenn die Inflation steigt.
Die derzeit hohe Inflation und die daran geknüpften Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) sind nach wie vor die beherrschenden Themen für die Kapitalmärkte. Auf den ersten Blick gibt es zwar durchaus Anlass zur Hoffnung, da die Rohstoffpreise nicht mehr weit über ihren Vorjahresniveaus liegen und die Verbraucherpreise dadurch in ihrer Gesamtbetrachtung bereits abnehmen. Dieser sogenannte Basiseffekt wirkt derzeit aber vorwiegend bei den Energiepreisen. Klammern wir die Energie- und die Nahrungsmittelpreise aus, bleibt die sogenannte Kerninflationsrate, welche von den Notenbanken stärker beachtet wird.
Leider geht dieses Kerninflation in Europa nicht merklich zurück. Zuletzt wurde sie für den Monat Mai mit 5,3 Prozent gemeldet und liegt damit nahe ihrem Allzeithoch von 5,7 Prozent. Mitverantwortlich für diese Hartnäckigkeit sind der stabile Arbeitsmarkt und der Wunsch der Arbeitnehmer, die Kaufkraftverluste über steigende Löhne auszugleichen. Zuletzt zeigte sich eine so hohe Lohndynamik wie zu Beginn der 1990er-Jahre mit den Nachwehen der Wiedervereinigung. Kurzfristig dürfte sich daran auch nichts ändern. So befindet sich die Arbeitslosenquote in der Eurozone mit einem Niveau von 6,5 Prozent im April auf einem Allzeittief, und es werden Fachkräfte in einem lange nicht mehr erlebten Ausmaß gesucht. Die demografische Entwicklung verschärft die Situation und verstärkt den Mangel an Arbeitskräften. Hinzu kommen preistreibende Effekte wie der Übergang zur grüneren Wirtschaft oder die Ausrichtung auf robustere globale Lieferketten.
Die Inflationsproblematik dürfte uns also erhalten bleiben. Wie lange, ist natürlich die entscheidende, aber kaum zu beantwortende Frage. Ein Blick in die Vergangenheit deutet jedenfalls nicht auf eine schnelle Besserung hin. Studien, die die Preisentwicklungen seit den 1920er-Jahren weltweit untersucht haben, zeigen, dass mit Erreichen einer Inflation von acht Prozent das Niveau in den nachfolgenden fünf Jahren meist um sechs Prozent gelegen hat. Die Preise stiegen also für deutlich längere Zeit mit höheren Raten als erwartet.
Auch wenn ich für den aktuellen Zyklus nicht ganz so pessimistisch bin, deutet sich ein erhöhtes Preisumfeld an, welches über den Zielen der Geldpolitik liegen sollte. Die Hoffnung zahlreicher Marktteilnehmer auf wieder schnell fallende Leitzinsen teile ich daher nicht. Zumindest in Europa wird die EZB mit der Eindämmung der Inflation noch länger beschäftigt sein. Das aber ist auch ein Vorteil für alle zinssuchenden Anlegerinnen: In eine Phase der Nullverzinsung werden wir so schnell nicht zurückfallen. Anleihen haben wieder an Attraktivität gewonnen und werden sie vorerst auch behalten.
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