Künstliche Intelligenz
Chancen und Risiken für Unternehmen und Finanzmärkte

Gut zu wissen
Oktober 2023

 

Autor: Marthel Edouard
ist seit 2019 als Portfoliomanager im Bereich Vermögensverwaltung der Weberbank verantwortlich für das Aktienmanagement und die Kapitalmarktanalyse. Als studierter Betriebswirt werden seine beruflichen Erfahrungen durch die akademischen Abschlüsse als Diplom-Kaufmann der Humboldt-Universität zu Berlin, Chartered Financial Analyst (CFA®), Chartered Alternative Investment Analyst (CAIA®) und Certificate in Quantitative Finance (CQF®) abgerundet.

Marthel Edouard

Ein neuer Meilenstein in der Technologiegeschichte

Im November vergangenen Jahres machte das Thema künstliche Intelligenz (KI) weltweit Schlagzeilen. Die US-amerikanische Firma OpenAI stellte ihr Computerprogramm namens ChatGPT vor und löste einen Sturm der Begeisterung aus. Eine Software, die auf Knopfdruck und in Sekundenschnelle Zusammenfassungen von Texten schreibt, eigenständig Analysen durchführt und Bilder erstellt, so etwas hatte es bisher nicht gegeben. Es war eine Sensation. Innerhalb von nur fünf Tagen registrierten sich weltweit mehr als eine Million Nutzer. Nie zuvor hatte eine technische Innovation es vermocht, sich so schnell zu verbreiten.

Mittlerweile vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neues Programm im Bereich der KI auf den Markt drängt. Das Entwicklungstempo ist rasant. Es scheint, als wäre der Startschuss für ein neues digitales Zeitalter gefallen, das neue Geschäftsmodelle hervorbringt, ganze Industrien transformiert, einen enormen Produktivitätsschub auslöst und die Arbeitswelt revolutioniert.

Der Produktivitätsbooster für Unternehmen

Schätzungen zufolge könnten durch den Einsatz von KI das globale Wirtschaftswachstum um zusätzliche sieben Prozent und die Arbeitsproduktivität um jährlich bis zu 1,5 Prozent in der kommenden Dekade steigen. Gerade für Deutschland und Europa bieten sich aufgrund der demografischen Entwicklung und der industriellen Transformation besondere Chancen.

Die Einsatzmöglichkeiten von KI in der Wirtschaft sind vielfältig. So hat die rasante Verbreitung von ChatGPT gezeigt, dass eine solche Software für jeden Kontext, in dem natürliche Sprache eine Rolle spielt, genutzt werden kann. Theoretisch kommen sämtliche Arbeitsabläufe in einem Unternehmen in Betracht. Eine aktuelle Studie der Stanford University belegt, dass viele Unternehmen bereits seit Jahren KI-Systeme einsetzen und dies zukünftig stark intensivieren wollen. Vier Anwendungsfelder werden am häufigsten genannt.

1. Verbesserte Entscheidungsfindung

Die Fähigkeit der KI, große Datenmengen in Echtzeit zu verarbeiten und zu analysieren, verbessert die Entscheidungsprozesse erheblich. Führungskräfte können auf genaue und aktuelle Informationen zugreifen und so schnell fundierte Entscheidungen treffen. Darüber hinaus kann eine KI verschiedene Szenarien simulieren und dabei helfen, die potenziellen Folgen von unternehmerischen Entscheidungen vorherzusehen, Risiken zu minimieren und Chancen zu maximieren.

2. Personalisierte Kundenerlebnisse

KI-gestützte Personalisierung ermöglicht es Unternehmen, Produkte, Dienstleistungen und Marketingkampagnen auf individuelle Kundenpräferenzen zuzuschneiden. Von E-Commerce-Plattformen, die Produkte auf der Grundlage früherer Käufe empfehlen, bis hin zu Chatbots, die sofortigen Kundensupport bieten, sorgt KI dafür, dass die Interaktion mit Kunden verbessert wird.

3. Prozessautomatisierung und Effizienz

In der Automatisierung steckt vielleicht das größte Potenzial der KI für die Wirtschaft. Sich wiederholende und zeitaufwendige Aufgaben können mithilfe von KI-gesteuerten Robotern und Software automatisiert werden. Dies senkt nicht nur die Betriebskosten, sondern ermöglicht es den Mitarbeiterinnen auch, sich auf strategische und kreative Aspekte ihrer Arbeit zu konzentrieren.

4. Optimierung der Lieferkette

In der globalisierten Welt von heute ist ein effizientes Lieferkettenmanagement für Unternehmen von entscheidender Bedeutung. KI spielt eine zentrale Rolle bei der Optimierung von Lieferketten durch die Prognose der Nachfrage, die Verwaltung von Beständen und die Steuerung von Transportwegen. Dies führt zu Kostensenkungen, schnelleren Lieferzeiten und einer flexibleren Reaktion auf Marktveränderungen.
Allein diese Anwendungsbeispiele machen deutlich, dass KI zu einem starken Motor des Fortschritts in den kommenden Jahren werden dürfte und damit auch zu einer Grundlage für unternehmerischen Erfolg. Umgekehrt muss ein Unternehmen sich bewusst sein, dass der Verzicht auf eine Nutzung der KI künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Wettbewerbsnachteile mit sich bringen wird.

Wie können Anlegerinnen und Anleger vom KI-Trend profitieren?

Angesichts des enormen Potenzials der künstlichen Intelligenz ist es nicht verwunderlich, dass Investorinnen am Aktienmarkt zuletzt versucht haben, frühe Gewinner und Verlierer ausfindig zu machen. Viele Technologieaktien sind in die Höhe geschnellt, seit ChatGPT vor einem Jahr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt hat.

Wir gehen davon aus, dass wir am Beginn des nächsten Megatrends für den Technologiesektor stehen. Die Entwicklung wird jedoch vermutlich nicht linear verlaufen, und Investoren müssen flexibel agieren. Die Aktienkurse von KI-Profiteuren werden wahrscheinlich in Schüben steigen und phasenweise auch wieder fallen, wenn der Markt an der Entwicklung zweifelt. Obwohl es noch zu früh ist, beurteilen zu können, welche Unternehmen sich als Marktführer durchsetzen werden, scheint eines bereits klar zu sein: Nutznießer des Trends gibt es entlang der Wertschöpfungskette.

Unter der KI-Anwendungsschicht befindet sich eine wichtige Infrastruktur für das Training und den Einsatz der Modelle. Da KI eine enorme Rechenleistung erfordert, sind einige Halbleiterunternehmen bestens positioniert, um davon zu profitieren. Bei leistungsfähigen Computerchips ist die globale Nachfrage zuletzt sprunghaft angestiegen und dürfte sich Schätzungen zufolge bis 2030 nahezu verdoppeln.

Aufgrund der riesigen Datenmengen, die zum Trainieren von KI-Grundlagenmodellen erforderlich sind, werden auch die Betreiber von dezentralen Rechenzentren (sogenannte Cloudanbieter) einen starken Nachfrageanstieg verzeichnen.

Bei aller Euphorie über die Aussichten für die Chipindustrie und die Cloudanbieter sollten Anleger aber die Risiken der Entwicklung im Blick behalten. Politikerinnen und auch Fachleute drängen darauf, der Entwicklung und dem Einsatz von KI enge regulatorische Leitplanken zu setzen. Der Aufbau eines global wirksamen Rechtsrahmens, der Grenzen des Machbaren vorgibt und gleichzeitig Raum für Innovationen lässt, wird eine politische Herausforderung werden.

Und noch etwas gilt es aus Investorensicht zu beachten. Dort, wo es Gewinner eines technologischen Trends gibt, finden sich meistens auch Verlierer: Unternehmen, die den Trend verschlafen oder deren Geschäftsmodell durch KI obsolet wird. Die Beurteilung der KI-Strategie eines Unternehmens sollte deshalb zu einem festen Bestandteil des Aktienauswahlprozesses einer jeden Anlegerin werden.

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