Prof. Dr. Rauscher Scheibe
Es ist die größte Hochschule für angewandte Wissenschaften Ostdeutschlands:
Seit fast einem Jahr steht Professorin Annabella Rauscher-Scheibe an der Spitze der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Sie macht Wissenschaftsmanagement mit gesellschaftlicher Bedeutung. Dafür muss zwar das Chorsingen pausieren, aber zur Gitarre greift sie weiterhin.
„DER ROTE GANG, DA MÜSSEN SIE HIN“, ruft Prof. Dr. Annabella Rauscher-Scheibe im Treppenhaus einer Kollegin zu, die sich an ihrem ersten Tag im Verwaltungstrakt der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin zu orientieren versucht. Das ist gar nicht so einfach in dem achtstöckigen DDR-Plattenbau in Karlshorst. „Die Farben helfen“, sagt Rauscher-Scheibe über die verschiedenen knalligen Anstriche der Etagen. Schnell fragt sie noch, ob das WLAN-Problem vom Vormittag gelöst sei. Gelebter Alltagspragmatismus und ein kleines Symbol für ihre Tätigkeit: „Prozesse gut zu gestalten, Sachen zum Funktionieren zu kriegen, um Freiräume für Lehre und Forschung zu schaffen“, das hat die promovierte Elementarteilchen-Physikerin gereizt, im April 2023 Hamburg zu verlassen und Präsidentin der größten staatlichen Fachhochschule Berlins zu werden.
EINE KOMPLEXE AUFGABE: Die HTW hat 80 Studiengänge, die von Technik und Informatik über Wirtschaft und Recht bis zu Kultur und Gestaltung reichen. Mehr als 14 300 Studierende sitzen bei 1330 Professoren, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Lehrbeauftragten in den Vorlesungen und lernen in 110 Labors, Studios und Werkstätten, die auf zwei Standorte verteilt sind. Amüsant, aber für das Leben der Studierenden auch ganz schön sind zwei weitere Zahlen: Fünf Strandkörbe und 70 Liegestühle stehen vor der Mensa auf dem Campus in Oberschöneweide. „Eine Hochschule mit Strand!“, sagt Rauscher-Scheibe. Baden oder die Füße in die Spree halten dürfe man dort aber nicht.
GENAU ZWISCHEN DEN BEIDEN CAMPUS WOHNT DIE PRÄSIDENTIN. Zur Arbeit nimmt sie die Tram oder das alte Hollandrad, sie habe keinen Führerschein und sei gern „mit den Öffis“ unterwegs. Es erstaune sie aber doch „immer wieder, wie lange man hier unterwegs ist“, so die Neuberlinerin, die zuvor 15 Jahre Professorin für angewandte Mathematik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg war. An den zwei Standorten der HTW habe sie bisher „noch nicht hinter jede Tür geschaut“, sagt sie lachend in ihrem Büro mit Sitzecke und papierstapellosem Besprechungstisch, ohne eigentlichen Schreibtisch. „Man sitzt ja viel in Besprechungen“, sagt Rauscher-Scheibe zu ihrem neuen Job. Laptop und Unterschriftenmappe liegen auch auf der Fensterbank gut.
UNTER IHREM BÜRO IM FÜNFTEN STOCK GEHT ES DEUTLICH WUCHTIGER ZU. Mit einem alten Gymnasium und dem Audimax, einem DDR-Prachtbau aus den 1950er-Jahren, bildete der Plattenbau früher die Hochschule für Ökonomie. Die monumentalen AEG-Hallen am anderen Campus in Oberschöneweide sind das Gründerzentrum der Berliner Elektroindustrie. Infotafeln des Museumsstudiengangs der HTW informieren dort auf 60 Meter Fassade über die Geschichte des Standorts. Studenten, die ein Start-up gründen wollen, können von der Hochschule zu Fuß in neu angesiedelte Gründerzentren wechseln. Gut 100 Ausgründungen seit 2017 zählt die HTW, die auch selbst Start-ups fördert und begleitet. Die zwei Standorte landen immer wieder auf Rauscher-Scheibes Besprechungstisch: Eigentlich sollten sie zusammengelegt werden, nach Veränderung der Randbedingungen muss das neu diskutiert werden.
OHNEHIN IST DIE WISSENSCHAFT BAUSTELLE GENUG. Zu Rauscher-Scheibes Schwerpunkten gehört neben den großen Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit die elementare Herausforderung, die Studiengänge „vollzubekommen“, vor allem die technischen. Dabei gehe es nicht allein um die HTW, die in Hochschulrankings regelmäßig beste Noten einfährt. „Es ist für uns schön, wenn unsere Studierendenzahlen stimmen. Aber es ist auch ein gesellschaftliches Problem, wenn die Studiengänge nicht voll werden. Es geht um sehr dringend benötigte Fachkräfte“, sagt sie. Daher denke man darüber nach, wie Themen kombiniert werden könnten oder ob eine Art duales Studium mit Firmen hilfreich wäre. Und um jungen Leuten das Studium finanziell zu ermöglichen, müsse die Politik deutlich mehr tun, sagt sie energisch.
AUCH DIE VERALTETEN BERUFSBILDER STÖREN RAUSCHER-SCHEIBE. „Jeder hat heute ein Smartphone in der Hand. Aber kein Mensch überlegt sich, dass es Elektrotechnik braucht, um das Ding zu bauen. Das ist nicht nur Informatik und Programmieren.“ Es gehe dabei um Praktisches und Alltägliches, das „cool“ sei. „Aber wenn man Leute zu Elektrotechnik befragt, sprechen alle noch immer vom Löten und von Kabeln.“ Das müsse dringend korrigiert werden. Ebenso ein anderer Irrtum: „Bei Elektrotechnik denkt jeder sofort an einen Mann. Aber Elektrotechnik ist heute Teamarbeit, und das können Frauen sehr gut.“ Warum aber interessieren sich weniger Frauen für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft oder Technik? „ES FEHLEN SCHON IN DER SCHULE DIE VORBILDER UND DIE FÖRDERUNG“, sagt Rauscher-Scheibe, die 1971 geboren wurde. Sie hatte solche Vorbilder: In der Grundschule in Augsburg machte eine Lehrerin in Stunden zur freien Verfügung immer Mathespiele. „Das war sensationell modern. Es hat Spaß gemacht und so trainiert, dass man es einfach konnte.“ Den Matheunterricht auf dem Mädchengymnasium fand sie danach „relativ trivial“. Aber auch die Familie prägte sie: Ihr Vater war Maschinenbautechniker, ihre Mutter kaufmännische Angestellte. Schmunzelnd erzählt sie, dass auch die Großmutter gern gerechnet habe: „Die Oma hat die Finanzen verwaltet, und der Opa hat Taschengeld bekommen.“ Während des Mathe- und Physikstudiums in Augsburg, im englischen Cambridge und in Heidelberg hörte sie dagegen „keine einzige Vorlesung bei einer Frau“.
ALS SIE PROFESSORIN WURDE, WAR IHRE TOCHTER ZWEI JAHRE ALT: „Das war eine anstrengende Kombination.“ Es illustriert zudem, warum auch an der HTW nur wenige Frauen in den technischen und mathematischen Fächern unterrichten. Für die schon wenigen Promovendinnen fällt eine mögliche Professur in die Zeit der Familienplanung. Mit der „gesellschaftlichen Realität“, wie Erwerbs- und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen verteilt sei, filtere das die Frauen weiter heraus, so Rauscher-Scheibe. Neben der generell sehr gezielten Nachwuchsförderung für Professuren versuche die HTW auch ganz praktisch, Zugangshürden für Frauen abzubauen. „Es geht nicht ums Bevorzugen. Aber wenn es eine längere Familienphase gab, dann ist die Publikationsliste halt kürzer“, sagt sie.
DIE PRAXISERFAHRUNG IST EINE WEITERE HÜRDE. Vor einer Fachhochschulprofessur muss es zwingend für fünf Jahre in die Industrie oder die Wirtschaft gehen. Ein „hohes Gehalt und das Sesshaftwerden“ machten dann manchmal die Wissenschaft unattraktiv, sagt Rauscher-Scheibe. Sie hat sieben Jahre lang für Siemens Medical Solutions in Oberfranken und Frankreich gearbeitet, internationales Projektmanagement inklusive, bereue es aber „keine Sekunde“, zurück an die Hochschule gegangen zu sein. „Bei mir hat es funktioniert, weil auch der Mann dazu da war, der es zum Funktionieren bringen wollte“, so Rauscher-Scheibe. Was bis heute anhält: Ihr Mann ist Gymnasiallehrer in Hamburg, ihre Tochter macht dort gerade Abitur. An den Wochenenden wird abwechselnd gependelt.
DIE GITARRE BLEIBT ABER IN BERLIN. Rauscher-Scheibe spielt seit Kindertagen, zurzeit liegen Tangos von Astor Piazzolla auf dem Notenständer. Musik ziehe sich durch das ganze Familienleben, sagt sie, ihren Mann habe sie im Kammerchor kennengelernt. Zeit für einen Chor habe sie derzeit nicht. Außerdem singe ihre Tochter „so professionell, dass ich zu Hause den Mund nicht aufmachen darf, weil ich nicht gut genug bin“, erzählt sie lachend. Ein Alltagspragmatismus, den sie aber offenbar wenig beeinflussen kann – oder will.
Text: Marcus Müller
Foto: © Paula Winkler
Datum: März 2024
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