Autor: Jan Gengel
Jan Gengel ist Direktor der Weberbank und seit 2006 als Portfoliomanager im Bereich Vermögensverwaltung verantwortlich für das Rentenmanagement und die Kapitalmarktanalyse des Hauses. Als gelernter Bankkaufmann werden seine beruflichen Erfahrungen durch die akademischen Abschlüsse als Diplom-Volkswirt der Humboldt Universität zu Berlin, Certified European Financial Analyst (CEFA) und Certified International Investment Analyst (CIIA®) abgerundet.
IST DEUTSCHLAND SCHON WIEDER zum„kranken Mann Europas“ geworden? Wenn wir den Schlagzeilen Glauben schenken, mutet es ganz so an. Spätestens seit der Economist unserer Wirtschaft zum zweiten Mal diesen Namen gab, überschlagen sich die Meldungen. Neben namhaften Forschungsinstituten senkte zuletzt auch die Europäische Kommission ihre Erwartungen und übergab Deutschland symbolisch die rote Wachstumslaterne: Mit prognostizierten minus 0,4 Prozent für das Gesamtjahr 2023 soll unsere Wirtschaft nicht nur schrumpfen, sondern auch das Schlusslicht Europas markieren. Die anderen drei Schwergewichte – Frankreich, Spanien und Italien – sollen dagegen sogar zulegen und dadurch dem gesamten Euroraum zu Wachstum verhelfen. Der einstige Wachstumsmotor ist ins Stottern geraten, doch ist Deutschland deswegen gleich wieder der „kranke Mann“?
ERSTMALS WURDE DEUTSCHLAND kurz vor der Jahrtausendwende zum Problemfall erklärt. Jedoch lag die Ursache damals vor allem an den herrschenden Arbeitsmarktbedingungen. Folgen der Wiedervereinigung waren ein erhöhtes Lohnwachstum und rasant steigende Sozialbeiträge für Unternehmen und Arbeitnehmer. Dem wurde jedoch nicht mit Reformen begegnet, sodass die Standortattraktivität stark nachließ, Produktionskapazitäten ins Ausland verlagert wurden und die Beschäftigung sank. Erst mit der Umsetzung der „Agenda 2010“ in den Jahren 2003 bis 2005 und strukturellen Verbesserungen wandelte sich die Situation, und Deutschland zeigte eine rasante Aufholbewegung. Diese fand mit der Pandemie und vor allem der geopolitischen Eskalation ein abruptes Ende. Auf- grund der globalen Abschwächung und dem geringeren Wirtschaftswachstum in Asien konnte der Export die inländische Misere nicht mehr auffangen. Abnehmende internationale Nachfrage bei gleichzeitig steigenden Preisen für die Produktion vor allem energieintensiver Güter sind eine denkbar schlechte Konstellation für die exportorientierte Industrie. Aber auch der Konsum litt unter den im Vergleich zu den Löhnen schneller steigenden Preisen. Diese sogenannten Reallohnverluste verunsicherten die Verbraucher und führten zu geringeren Ausgaben. Und dass der Bausektor aufgrund der gestiegenen Preise und der hohen Zinsen nahezu eingebrochen ist, dürfte niemanden wirklich überraschen.
MEINES ERACHTENS STELLEN DIESE Entwicklungen jedoch typische Phänomene eines Konjunkturabschwungs dar und sind daher eher als zyklisch denn als strukturell zu klassifizieren. Die Herausforderungen liegen darin, sie nicht zu strukturellen Problemen werden zu lassen. Anders als zur Jahrtausendwende besteht in Deutschland eine enorm hohe Nachfrage an Arbeitskräften. Aufgrund unserer demografischen Entwicklung sinkt das inländische Angebot, welches nur mit einer verbesserten Integration zugewanderter Fachkräfte aufgefangen werden kann. Hierfür ist aber auch ausreichender Wohnraum in denjenigen Ballungsräumen Voraussetzung, in denen die Arbeitsnachfrage besteht. Investitionsanreize statt immer neuer regulatorischer oder gesetzlicher Hindernisse wären sehr wünschenswert. Dies gilt auch für die Energiepolitik. Die Abkehr von der russischen Abhängigkeit und die gleichzeitig angestrebte grüne Transformation führen zu hoher Unsicherheit. Für energieintensive Branchen wie etwa den Chemiesektor ist Klarheit über die künftige Energiepolitik Voraussetzung für Investitionsentscheidungen im Inland.
DIES SIND NUR EIN PAAR BEISPIELE neben der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und einer Reduzierung der überbordenden Bürokratie, wie Deutschland verhindern kann, wieder zum „kranken Mann Europas“ zu werden. Derzeit ist es das nicht.
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