Autor: Jan Gengel
Jan Gengel ist Direktor der Weberbank und seit 2006 als Portfoliomanager im Bereich Vermögensverwaltung verantwortlich für das Rentenmanagement und die Kapitalmarktanalyse des Hauses. Als gelernter Bankkaufmann werden seine beruflichen Erfahrungen durch die akademischen Abschlüsse als Diplom-Volkswirt der Humboldt Universität zu Berlin, Certified European Financial Analyst (CEFA) und Certified International Investment Analyst (CIIA®) abgerundet.
Aus Sicher der Kapitalmärkte herrscht Erleichterung. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt* noch unklar ist, wie die neue Bundesregierung sich zusammensetzen wird, ist das Schreckgespenst des wirtschaftspolitischen Linksrutsches vom Tisch. Die damit verbundenen Präferenzen für Enteignung, Mietpreisdeckelung, Besteuerung von Vermögen, höhere EU-Transferzahlungen und ein Aufweichen oder gar die Aufgabe des europäischen Stabilitätspakts sorgten nicht nur bei Anlegern für große Bedenken. Kurzfristig zeigte sich daher auch eine positive Marktreaktion. Für die längerfristigen Auswirkungen ist natürlich der Ausgang der Koalitionsverhandlungen bedeutsam. Unter der Annahme, dass eine Große Koalition seitens beider Parteien nicht erstrebenswert ist, sind „Jamaika“ und die „Ampel“ die beiden wahrscheinlichsten Optionen. Beide Varianten sind Koalitionen der Mitte mit linker oder rechter Ausprägung. Für die Verhandlungspartner dürfte die Suche nach gemeinsamen Nennern dennoch herausfordernd sein. Komplizierte und lang anhaltende Koalitionsgespräche sind relativ wahrscheinlich, auch eine Neuwahl ist aus heutiger Sicht nicht völlig auszuschließen.
Trotz der Unsicherheit sind meines Erachtens größere marktwirtschaftliche Umbrüche nicht zu erwarten. Adjustierungen wird es aber geben, und diese werden sich eher auf bekannte Themen wie den Klima- und Umweltschutz, die Sozial- und Steuerpolitik, die Digitalisierung oder auch die Europastrategie konzentrieren. Deren Wichtigkeit sollte unbestritten sein. Haben uns die jüngsten Unwetter oder die Covidpandemie ihre Bedeutung und unsere Defizite doch eindrucksvoll aufgezeigt. Mit Blick auf Europa sind daher auch die Bedingungen an die Auszahlungen des Wiederaufbaufonds der EU sehr zu begrüßen. Sie zielen vor allem auf Investitionen zur Förderung von Nachhaltigkeitsthemen und den Ausbau der digitalen Infrastruktur ab. Beides Felder, in denen der Investitionsstau der vergangenen Jahre dringend abgebaut werden sollte.
Kritischer dürfte der Aspekt der gemeinsamen Haftung für die Schulden zur Refinanzierung des Aufbaufonds gesehen werden. Bewegt sich Deutschland und damit Europa mehr in eine Haftungsunion, oder bleibt es bei diesem Einzelfall? Wie zeigt sich die deutsche Politik grundsätzlich gegenüber einer ausgabenfreudigeren Fiskalpolitik und höheren Neuverschuldungen? Die längerfristige Bewertung europäischer Staatsanleihen und auch des Euro dürfte hiervon in hohem Maße abhängen. Kurzfristig dürften sich die Auswirkungen der Wahlen aber eher in Grenzen halten.
Dies gilt aus meiner Sicht auch für die Aktienmärkte. Selbst für deutsche Aktien sollten sich nur selektiv direkte Einflüsse bemerkbar machen. So sind die börsennotierten Unternehmen international diversifiziert und bewegen sich in einer globalisierten Wirtschaft. Die Entwicklungen sollten mehr durch übergelagerte Themen dominiert werden. Allen voran der anhaltende Inflationsdruck, die Entwicklungen in China, die Produktionshindernisse durch die weltweiten Lieferengpässe und natürlich die Ausgestaltung der Geldpolitik in Europa und den USA werden das Marktgeschehen beherrschen. Ich kann gar nicht oft genug betonen, wie groß die Abhängigkeit risikobehafteter Anlagesegmente von der Zentralbankliquidität geworden ist. Eine erfolgreiche Rückführungsstrategie der im Rahmen der Pandemie lancierten Notfallprogramme ist für den fortgesetzten Aufschwung der Kapitalmärkte aus meiner Sicht von größerer Bedeutung als der Ausgang der deutschen Koalitionsverhandlungen.
* Redaktionsschluss für diesen Artikel: 29. September.
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