Der vergessene Menschenverstand der Finanzwelt

Wirtschaft & Trends
Oktober 2016

 

Autor: Jan Gengel
ist Direktor der Weberbank und seit 2006 als Portfoliomanager im Bereich Vermögensverwaltung verantwortlich für das Rentenmanagement und die Kapitalmarktanalyse des Hauses. Als gelernter Bankkaufmann werden seine beruflichen Erfahrungen durch die akademischen Abschlüsse als Diplom-Volkswirt der Humboldt Universität zu Berlin, Certified European Financial Analyst (CEFA) und Certified International Investment Analyst (CIIA®) abgerundet.

Jan Gengel

Täglich werden Berichte mit Vorhersagen über künftige Wirtschafts- und Marktentwicklungen veröffentlicht. Im schlimmsten Fall werden die Erwartungen auch noch mit Eintrittswahrscheinlichkeiten versehen und dem Leser so Scheingenauigkeiten vorgegaukelt. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Abstimmung Großbritanniens über den Verbleib in der Europäischen Union. Keine Vorhersage hat mit einem Austritt gerechnet. Im Gegenteil wurde mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 75 Prozent der Verbleib erwartet. Es ist anders gekommen. Doch statt hieraus zu lernen, werden munter die nächsten Prognosen vorgenommen.

Fakt ist, wir leben nicht in einer riskanten, sondern in einer unsicheren Welt. Diese Unterscheidung ist mehr als nur von semantischer Bedeutung. Ein Risiko ist im Gegensatz zur Unsicherheit kalkulierbar. Zur Messung von Risiken werden Erfahrungen aus der Vergangenheit oder statistische Verfahren genutzt, um zukünftigen Ereignissen Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen wie etwa bei einem Münzwurf. Unsicherheit hingegen ist nicht messbar und erfordert das Eingeständnis, es einfach nicht zu wissen. Eine unter Ökonomen seit über einem Jahrhundert bekannte Differenzierung. Und dennoch wird sie immer wieder vergessen, besonders an den Finanzmärkten. Doch wer konnte beispielsweise die Finanzkrise im Jahr 2008 vorhersagen oder dass Japan auch nach über einer Dekade expansiver Geldpolitik immer noch in einer Stagnation gefangen sein würde? Wie viele haben Donald Trump als möglichen Präsidentschaftskandidaten vorhergesagt? Oder wer hätte vor ein paar Jahren mit negativen Zinsen in Europa gerechnet? All diese Ereignisse zeigen uns, dass wir einfach die Zukunft nicht vorhersagen können – egal wie sehr wir es uns wünschen.

Leider wird uns seitens unserer Zentralbanken vorgegaukelt, sie wüssten, wie sich die Volkswirtschaften entwickelten. So werden jedes Quartal exakte Vorhersagen über die wirtschaftliche Entwicklung und die Verbraucherpreise veröffentlicht und darauf basierend Entscheidungen über die Ausrichtung der Geldpolitik getroffen. Welche fragwürdige Qualität die Prognosen haben, zeigen die ebenso regelmäßig vorgenommenen Revisionen. Eigentlich sollte die höhere Transparenz zu weniger Spekulationen über die Notenbankpolitik führen. Das Gegenteil wurde erreicht. Ein Umdenken ist dringend erforderlich und wird zunehmend diskutiert – unterstützt auch von der radikalen Kritik des vormaligen Präsidenten der Bank of England, Mervyn King. Seiner Ansicht nach sind auch die ausgeklügeltesten Modellrechnungen über künftige Entwicklungen zum Scheitern verurteilt – liefert uns doch die jüngste Vergangenheit genügend Beweise.

Dennoch ist nicht mit einer kurzfristigen Abkehr von einer prognosebasierten Geldpolitik zu rechnen. Jedoch sollten Anleger aus meiner Sicht ihre Entscheidungsfindung dringend überdenken und mehr auf eine naturgegebene und mit Erfahrung zunehmende Fähigkeit vertrauen, den gesunden Menschenverstand. Hinterfragen Sie Investitionsideen, die auf Modellrechnungen oder gar Prognosen beruhen. Überlegen Sie einmal, was wäre, wenn doch das Gegenteil der Konsensmeinung einträte. Was wäre, wenn die EZB-Maßnahmen zu einer Hyperinflation führen würden? Oder was wäre, wenn Japan den größten Aufschwung seiner Geschichte erführe? Diesen Ereignissen würde ich keine hohe Wahrscheinlichkeit beimessen. Dennoch dürften sie erhebliche Auswirkungen auf die Wertentwicklung von Kapitalanlagen haben. Gerade wenn Sie Dinge für völlig abwegig halten, lohnt es sich, sich über deren mögliche Auswirkungen Gedanken zu machen. Denn den Markt und damit Ihr Vermögen bewegen vor allem Dinge, die unerwartet auftreten.

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