Die letzte Meile (der Inflationsbekämpfung) ist die schwierigste

Wirtschaft & Trends
März 2024

 

Autor: Jan Gengel
Jan Gengel ist Direktor der Weberbank und seit 2006 als Portfoliomanager im Bereich Vermögensverwaltung verantwortlich für das Rentenmanagement und die Kapitalmarktanalyse des Hauses. Als gelernter Bankkaufmann werden seine beruflichen Erfahrungen durch die akademischen Abschlüsse als Diplom-Volkswirt der Humboldt Universität zu Berlin, Certified European Financial Analyst (CEFA) und Certified International Investment Analyst (CIIA®) abgerundet.

Jan Gengel

BEIM LANGSTRECKENLAUF oder gar bei einem Marathon nimmt vermutlich jeder Läufer, jede Läuferin die letzte Meile anders wahr. Während die einen durch das näher rückende Ziel schon die ersten Glückshormone verspüren, dürften andere ihre letzten Kraftreserven mobilisieren und noch einmal alles geben, um das Ziel wirklich zu erreichen. Vermutlich hat unser Bundesbankpräsident Joachim Nagel sich eher auf Letzteres bezogen, als er den Vergleich mit dem aktuellen Umfeld zog und die letzte Meile im Kampf gegen die Inflation als die schwierigste bezeichnete.

DOCH WORAN LIEGT DAS? Diese Frage stellt sich vor allem mit Blick auf die Entwicklung der Verbraucherpreise. So ist die Inflation im Euroraum seit ihrem Hoch im Oktober 2022 von 10,6 Prozent zuletzt doch wieder auf 2,9 Prozent zurückgekommen. Würde sie im gleichen Tempo weiter sinken, wäre das Ziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent bald erreicht. Doch die ersten Meilen im Kampf gegen die Inflation waren noch sehr leichtfüßig, da sie durch Basiseffekte begünstigt wurden. Diese entstehen durch den Vergleich des Preisniveaus mit dem Vorjahr. Da sowohl Rohstoff- als auch Nahrungsmittelpreise nicht mehr so rasant steigen wie nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, sinken die Vorjahresvergleiche und damit die Inflation.

DIE AKTUELLE ENTWICKLUNG gleicht sehr dem Verlauf in den 1970er-Jahren, als nach den Energieschocks die Preisdynamik in vielen Ländern rasch nachließ, aber das Inflationsproblem dennoch nicht gelöst war. Eine Studie des Internationalen Währungsfonds über die damalige Entwicklung zeigt, dass in fast der Hälfte der analysierten Fälle die Inflation sich auf einem Niveau einpendelte, das mindestens einen Prozentpunkt höher lag als vor dem Inflationsschock. Eine der damaligen Ursachen lag in zu frühen Lockerungsmaßnahmen der Notenbanken – und genau dieser Fehler soll heute vermieden werden.

WIR SIND AN EINEM PUNKT ANGELANGT, an dem sich die Wirtschaft zwar merklich abgekühlt hat, aber nicht eingebrochen ist. Gleichzeitig sorgt die Demografie für einen äußerst robusten Arbeitsmarkt und – zum Leid der EZB – rekordhohe Gehaltssteigerungen. Die zuletzt gemeldeten Tariflöhne weisen im Durchschnitt einen Zuwachs von 4,7 Prozent auf – ein Anstieg, den es im Euroraum noch nie gab. Die EZB selbst schätzt, dass sich diese Dynamik sogar erhöhen wird und damit den Unternehmen zusätzlichen Spielraum für Preiserhöhungen gibt. Ein Umfeld, in dem weitere Inflationsrückgänge immer schwieriger werden. Hinzu kommt die Sorge vor erneuten Preisschüben aufgrund der unsicheren geopolitischen Lage. Bereits jetzt sind durch den Konflikt im Nahen Osten einzelne Lieferketten gestört, dadurch steigen die Frachtraten für Containerschiffe wieder deutlich an – neben den Energiepreisen ein bedeutsamer Treiber des jüngsten Inflationsschocks.

TROTZ ALLER UNWÄGBARKEITEN und der Wachstumsabschwächung muss die EZB nun die letzte, vermutlich anstrengendste Meile gehen, um die Inflation nachhaltig einzudämmen. Die Historie, der Arbeitsmarkt und die Geopolitik mahnen zur Vorsicht. Zinssenkungen sollten nicht zu früh ergriffen werden und wenn doch, nur behutsam erfolgen. Eine schnelle Rückkehr in die Niedrig- oder gar Nullzinsphase ist aus meiner Sicht daher eher unwahrscheinlich. Dennoch sollten zinsuchende Anlegerinnen und Anleger ihre Kurzfristanlagen reduzieren und sich die noch attraktiven Renditeniveaus über Anleihen mit längeren Laufzeiten sichern.

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