Dr. Sigrid Nikutta
Unternehmen auf Spur zu bringen ist ihr Metier. Die wohl größte Herausforderung für Sigrid Nikutta als Vorstand Güterverkehr der Deutschen Bahn ist es, die komplexe Logistiksparte des Unternehmens zukunftsfähig zu machen. Ihr Trumpf: die Bedeutung der Schiene für die Klimawende.
ETWAS ZUM BESSEREN ZU VERÄNDERN sei schon immer ihr Antrieb gewesen, sagt Dr. Sigrid Nikutta. Das klingt wie die Antwort auf die noch nicht gestellte Frage, warum sie die Herausforderung angenommen hat, die Sparte Güterverkehr neu auszurichten und damit – fast im wörtlichen Sinne – die Weichen für eine profitable Zukunft zu stellen. Fakt ist: Seit dem 1. Januar 2020 verantwortet Sigrid Nikutta im Vorstand der Konzernholding Deutsche Bahn AG in Berlin das Ressort Güterverkehr. Zeitgleich hat sie als Vorsitzende des Vorstandes der Güterverkehrstochter DB Cargo mit Sitz in Mainz die Hoheit bei einem Unternehmensbereich übernommen, der aktuell in 17 europäischen Ländern aktiv ist. Bei DB Cargo trägt Nikutta die Verantwortung für mehr als 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Erwartungen sind groß – nicht nur innerhalb des DB-Konzerns. Wie geht sie damit um?
„Ursprünglich wollte ich Gefängnispsychologin werden, in der Therapie mit Straftätern arbeiten. Ich habe ein ausgeprägtes soziales Gerechtigkeitsgefühl, das gab den Ausschlag für das Psychologiestudium“, sagt Sigrid Nikutta. Als die Zentrale Vergabe für Studienplätze ihr einen Studienplatz in Bielefeld zuweist, ist die nur wenige Kilometer davon im Kreis Herford geborene Abiturientin enttäuscht, allerdings nicht lange: „Die Studienzeit war grandios“, erinnert sich Sigrid Nikutta, „meinen späteren Mann und große Teile meines Freundeskreises habe ich in dieser Zeit kennengelernt.“
DIREKT NACH DEM GRUNDSTUDIUM macht sie ein Praktikum in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld, Abteilung Brackwede II. „Da sitzen die ‚ganz schweren Jungs‘“, erinnert sich Nikutta, „es war faszinierend, aber auch desillusionierend, denn mir wurde klar, wie klein der Hebel ist, den man als einzelne Psychologin in diesem ganzen Apparat der Strafverfolgung bewegen kann.“ Sie zieht die Konsequenzen aus dieser Erfahrung und schwenkt um auf Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie. Nebenbei belegt sie auch Betriebswirt- schaftslehre und Jura, arbeitet parallel zum Studium für die in Bielefeld ansässige Horstmann Group. Die inhabergeführte Gruppe ist ein Verbund von rund 30 Unternehmen aus fünf Industriezweigen, darunter dem Bäckereimaschinen- und Backtechnik-Weltmarktführer WP Bakerygroup.
„Die Zeit dort hat mich sehr geprägt“, sagt Nikutta, „aber nach fünf Jahren wollte ich zu einem großen Mittelständler. Und ich wollte in die neuen Bundesländer. Es war eine strategische Entscheidung.“ Doch schnell muss Sigrid Nikutta feststellen: Mittelstand und Ostdeutschland – das schließt sich beinahe aus. „Bei der Bahn war es damals anders: Faszination pur. Also bin ich 1996 nach Dresden gegangen und habe dort das Trainingszentrum der Deutschen Bahn übernommen, in dem Angestellte und Auszubildende in verschiedenen Bereichen qualifiziert werden. Ich war 27 und auf einmal die Chefin von 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.“
AUF DRESDEN FOLGT FRANKFURT AM MAIN, wo Nikutta den gesamten Bildungsbereich der Deutschen Bahn verantwortet. „Irgendwann kam der Gedanke: ‚Du kannst doch nicht immer nur Bildung machen!‘ Ich wollte ins Kerngeschäft.“ Sie wechselt als Personalchefin zum Bereich Güterverkehr in der Niederlassung Duisburg, lernt das Geschäft „von der Pike auf“. Später geht es nach Mainz, wo sie erste größere Bereiche übernimmt. „Kurz vor meinem 40. Geburtstag bin ich Vorstand der polnischen Güterverkehrstochter von DB Cargo geworden.“ Ihr weiterer Weg scheint klar, sagt Sigrid Nikutta. Und dann kommt das Angebot der BVG, der Berliner Verkehrsbetriebe.
„DIE BVG GALT ALS ‚MISSION IMPOSSIBLE‘“, sagt Sigrid Nikutta. Sie nimmt die Herausforderung an und führt das Unternehmen in die schwarzen Zahlen: „Das ging relativ schnell.“ Zudem gelingt ihr als Vorstandsvorsitzende und Vorstand Betrieb eine Neupositionierung der Berliner Verkehrsbetriebe – der Kampagnen-Slogan „Weil wir dich lieben“ wird bis heute, mehr als zehn Jahre später, in der Kundenkommunikation eingesetzt.
Auch die Deutsche Bahn genießt den Ruf, eine „Mission Impossible“ zu sein, doch Nikutta schiebt diesen Gedanken weit von sich. „Ich bin völlig unerschrocken und mutig“, beschreibt sie ihre Grundhaltung bei Herausforderungen. „Natürlich ist es wichtig, Veränderungen anzustoßen, die Menschen mitzunehmen auf dem Weg, ein Team zu bilden.“ Dieser Weg sei auch bei der Deutschen Bahn alles andere als einfach: „Menschen sind ja per se erst einmal skeptisch, wenn es um Veränderungen geht. Da muss man die Herzen gewinnen, Stück für Stück.“ Sie wisse, dass sie als DB-Vorstand „die richtig dicken Bretter bohren“ müsse, sagt Sigrid Nikutta, „weil es natürlich darum geht, politische, industrielle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verändern. Viele sagen, es sei nicht machbar. Ich sage, es ist machbar. Und deshalb bin ich zurückgekommen.“
DASS ES EIN KAMPF GEGEN WINDMÜHLEN WIRD, davon geht Nikutta nicht aus. Vielmehr hätten sich in Wirtschaft und Politik neue Positionen entwickelt, von der die Bahn profitieren könne. „Seit den Sechzigerjahren heißt es: ‚Güter gehören auf die Schiene‘, passiert ist aber lange das Gegenteil. Städte wie Berlin wurden autofreundlich gebaut. Der Lkw war im Vergleich zur Schiene flexibler, Straßenbau wurde aus Haushaltsmitteln bezahlt, an Umweltschutz dachte niemand“, sagt Sigrid Nikutta, „Energieeffizienz spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Stauentwicklung. Dafür haben wir die Quittung bekommen: 80 Prozent der Waren werden hierzulande auf der Straße transportiert, nur 18 Prozent auf der Schiene.“ Um dies zu ändern, brauche es vor allem eines: Kapazität. Insofern komme die Verabschiedung des größten und umfassendsten Infrastrukturprogramms seit 1994 von Bund und Deutsche Bahn, das in diesem September auf den Weg gebracht wurde, zum besten Zeitpunkt: Beim „Schienengipfel“ des Bundesverkehrsministeriums wurde ein weitreichendes Paket beschlossen, das bis 2030 neben einer Generalsanierung des Streckennetzes und der Bahnhöfe auch Maßnahmen in den Bereichen Flächennetz und Digitalisierung vorsieht.
„DIE INDUSTRIE HAT LANGE ZEIT EHER AUF DIE STRASSE GESETZT, aber auch da findet ein Umdenken statt. Der CO2-Footprint und die CO2-Reduktion spielen eine zunehmende Rolle.“ Auch der demografische Wandel habe für die Entscheidung „pro Schiene“ Relevanz, sagt Nikutta: „Ein Güterzug kann bis zu 52 Lkw ersetzen. Das heißt: Ich habe eine Lokführerin oder einen Lokführer statt 52 Berufskraftfahrerinnen und -fahrer. Das ist ein Asset, mit dem wir zukünftig wuchern werden.“ Unter Hochdruck arbeite ihr Ressort an kapazitätserhöhenden Maßnahmen wie dem Ausbau von Überhol- und Abstellgleisen. Langfristig sieht Nikutta die Deutsche Bahn in intelligenter Kombination mit der Logistik auf der Straße: „Der Trend geht zur Containerisierung, denn Container lassen sich schnell von Straße auf Schiene umladen – und umgekehrt.“ Ein weiteres wichtiges Thema sei die Nutzung künstlicher Intelligenz. „KI spielt bei uns inzwischen eine große Rolle“, sagt Nikutta, „denn wir haben es bei der Bahn ja mit sich häufig wiederholenden Vorgängen und Mustern zu tun.“ Zum Beispiel geben Kamerabrücken an acht Rangierbahnhöfen über eine KI-Software den Mitarbeitern Hinweise zum Zustand von Güterwagen und Ladung. Auch das autonome Fahren ist für Sigrid Nikutta kein Tabu. „Im Gegensatz zur Straße, wo das autonome Fahren ja auch erprobt wird, gibt es auf der Schiene viel weniger Außenfaktoren. Es ist also einfacher. Die autonom fahrende U-Bahn in Nürnberg zeigt, dass es ein gangbarer Weg ist, auch für die ‚große‘ Schiene.“
DIE AMBITIONEN VON SIGRID NIKUTTA SIND GROSS, sie wird sich an ihnen messen lassen müssen. Welche Rolle spielt es dabei, dass sie in einer männerdominierten Branche arbeitet? Schließlich sind beide Vorstände, in denen sie tätig ist, überwiegend männlich besetzt, und neun von zehn ihrer Mitarbeiter sind Männer. Sigrid Nikutta scheint amüsiert. „Tatsächlich kenne ich es nicht anders. Ich arbeite immer in männerdominierten Umfeldern, war immer die erste Frau in jeder Rolle.“ Sie engagiere sich dafür, den Anteil von Frauen im Unternehmen zu erhöhen, „aber dazu braucht es eine ganz klare Zielsetzung“. Jetzt spricht die Psychologin aus ihr: „Psychologisch gilt das Prinzip, dass Ähnlichkeit attraktiv macht, dass ein Mann durch einen anderen Mann kompetenter wahrgenommen wird. Dieses Muster müssen wir durchbrechen.
“Ein guter Indikator für den Status quo sei ein Blick auf die Vorstandsbereiche der Unternehmen: „Haben wir weibliche CEOs? Das ist eine relevante Frage.“ Sie selbst sei in den Frauennetzwerken der Deutsche Bahn AG aktiv, denn „starke Frauen ziehen starke Frauen nach“.
SIGRID NIKUTTA IST AUF IHRER MISSION. Doch was ist ihre persönliche Option im Anschluss an eine erfolgreiche Karriere? Die Antwort folgt umgehend :„Wir leben seit 13 Jahren in Berlin, wir sind in Berlin angekommen. Auch wenn ich beruflich schwerpunktmäßig oft woanders bin, wir werden Berlinerinnen und Berliner bleiben.“
Text: Christian Bracht
Foto: © Meike Kenn
Datum: November 2023
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