Autorin: Hannah Thielcke
Hannah Thielcke ist Volkswirtin und Portfoliomanagerin in der Vermögensverwaltung der Weberbank. Ihr Fokus liegt dabei auf der volkswirtschaftlichen Analyse und dem Rentenmanagement.
„GERMAN ANGST“ IST EIN IM AUSLAND GERN VERWENDETER BEGRIFF, wenn es um neurotische Sorgen geht. Wir Deutschen scheinen – zumindest in der Außenwahrnehmung – dazu zu neigen, die Dinge allzu schwarz zu sehen. Wenn nun der Abgesang auf die deutsche Industrie und Wirtschaft erklingt, halte ich frei nach Hermann Hesse dagegen: Jedem Ende (oder war es der Anfang?) wohnt ein Zauber inne. Der Ursprung dieser Sorgen liegt im Jahr 2018, als die Talfahrt der Industrieproduktion begann. Sechs Jahre später, im Mai 2024, liegen die Zahlen rund 14 Prozent unter dem Hoch aus 2018 – das ist ein jährlicher Rückgang um 2,5 Prozent. Gleichzeitig entwickelte sich die Bruttowertschöpfung, der geschaffene Mehrwert in der Industrie, weniger negativ mit minus einem Prozent jährlich. Dieser deutliche Unterschied zwischen Wertschöpfung und stärker rückläufiger Produktion zeigt vor allem eins: Die deutsche Wirtschaft befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Strukturwandel – und bewältigt ihn erstaunlich gut.
SEIT VIELEN JAHREN IST EIN STARKER TREND HIN ZU HOCHTECHNOLOGIEPRODUKTEN festzustellen, weg von der Massenproduktion einfacherer Güter, die vermehrt in Nachbarländer verlagert wird. Gleichzeitig zeigen die Daten, dass hierzulande vor allem in Forschung und Entwicklung sowie in Software und geistiges Eigentum investiert wird. Deutschland entwickelt sich von einer industrie- zu einer wissensbasierten, dienstleistungsorientierten Wirtschaft. Mit dem stärkeren Fokus auf inländische Industrieproduktion sind wir ohnehin die Ausnahme unter den hoch entwickelten Volkswirtschaften. Unser Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttoinlandsprodukt liegt mit 69 Prozent noch hinter dem der USA mit rund 80 Prozent. Dabei steht deutsche Forschung und Entwicklung für Exzellenz und Qualität, wie der hervorragende achte Platz im Global Innovation Index 2023 zeigt. Die Schwächen, die aufgezeigt werden, verwundern nicht: Nachholbedarf besteht insbesondere in Sachen Monetarisierung von Forschungsergebnissen und innovations- und gründungsfreundlicher Bürokratie sowie leistungsfähiger digitaler Infrastruktur. Umso beeindruckender ist es, dass trotzdem so gute Ergebnisse herauskommen.
SO BEÄNGSTIGEND EIN TIEFGREIFENDER STRUKTURWANDEL SEIN MAG, so wichtig ist er für eine zukunftsfähige Volkswirtschaft. Ein Grund dafür ist der unaufhaltsame demografische Wandel, gepaart mit einer Abnahme der durchschnittlichen Arbeitsstunden pro Kopf. Wir müssen produktiver werden und uns auf die profitabelsten Bereiche der Wertschöpfungskette konzentrieren. Jedes einzelne Unternehmen begibt sich gerade auf diesen Weg. Damit dieser Wandel weiterhin gelingt, kann die Politik nun wichtige Weichen stellen: Bürokratieabbau, Digitalisierung und die Schaffung kritischer Infrastruktur sowie dieSteigerung der Attraktivität für hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Ausland. Der deutsche Erfindergeist kann sich aktuell trotz fehlender Hilfe aus der Politik behaupten und bildet das Rückgrat der fundamentalen Stärke unserer Volkswirtschaft. Den Untergang der deutschen Industrie auszurufen ist daher aus meiner Sicht überzogen. Große Wachstumssprünge sollten jedoch ausbleiben, solange die Politik nicht aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht.
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