Sammlung Grauwinkel: die Schönheit der Mathematik

Siegfried Grauwinkel sammelt mit Konzept und Leidenschaft: konkrete Kunst ab 1960 in Europa. Dass den Werken dieser Kunstrichtung oft mit Unverständnis begegnet wird, nimmt Grauwinkel mit Gelassenheit hin. Und sammelt weiter.

Als Siegfried Grauwinkel 1982 sein erstes Bild kauft, ein „Brushstroke“ des indonesischen Künstlers Teguh Ostenrik, hat er schon zwei Jahre mit sich gerungen. „Es hat in mir gearbeitet“, beschreibt er diese Zeit. Es ist die Ästhetik des Minimalismus, in der er als Handelsvertreter für Architekturbeleuchtung völlig aufgeht: „Ich wollte mehr davon!“ Grauwinkel beginnt zu sammeln, besucht Galerien und Auktionen, kauft auch direkt in den Ateliers. Er arbeitet sich durch Ranglisten, befasst sich mit der Reputation der Künstlerinnen, hinterfragt ihre Ausbildung. So ist der österreichische Künstler Hellmut Bruch der einzige Autodidakt, dessen Werke er in seine Sammlung aufgenommen hat. Irgendwann zählt diese Sammlung rund 600 Werke, darin finden sich Künstler wie Sigmar Polke und Joseph Beuys sowie Vertreter der „Jungen Wilden“ aus Berlin. Siegfried Grauwinkel nennt das „seine erste Phase“. Sie endet abrupt, als er den Berliner Rechtsanwalt und Kunstmäzen Peter Raue über dessen eigene Sammlung sagen hört, er habe keine Kunstsammlung, sondern ein Konglomerat von Kunstwerken. „Klick! Das war’s!“, erinnert sich Grauwinkel. „Also habe ich mir ein Konzept verordnet – konkrete Kunst ab 1960 in Europa.“ Was nicht in diese inhaltliche Klammer passt, landet – ähnlich wie bei einer „Bad Bank“ – in der „Sammlung disponibel“ und wird verkauft, ohne Ausnahme. Selbst wenn er mit dem Künstler befreundet ist. „Ohne Konzept“, stellt der Sammler fest, „wird man in der Szene nicht akzeptiert.“

Heute befinden sich um die 400 Werke in Grauwinkels „Sammlung konkret“, etwa 300 von ihnen sind Leinwände, die anderen Skulpturen und Papier. Von der Konzeptkunst habe er sich ebenfalls getrennt, sie sei „nicht nachhaltig“, sagt der Sammler: „Sie wird in 100 Jahren vergessen sein.“ Doch Nachhaltigkeit im Sinne des kulturellen Erbes ist ihm wichtig. Und so sind noch immer große Namen im Werksverzeichnis aufgeführt: Otto Piene, Günther Uecker, Victor Vasarely. Seit der Wende liegt Grauwinkels Augenmerk auf den Konstruktivisten aus Osteuropa, allen vorweg jenen aus Polen, der Slowakei, Tschechien, Slowenien und Ungarn. Ganz wichtig: Das Werk muss ihn ansprechen. „Die Ruhe, die Ordnung, die Farbkombination, dazu die geometrische Konstruktion – es ist diese Klarheit und Ästhetik, die ich liebe“, sagt Siegfried Grauwinkel. Und natürlich die Mathematik, deren Schönheit sich zum Beispiel in den Werken von Suzanne Daetwyler offenbare. Die in Basel ansässige Künstlerin setzt Zahlen in Farben um und erschafft „magische Quadrate“, in denen die Quersummen von Spalten und Zeilen stets denselben Wert ergeben. „Andere Künstler wiederum arbeiten mit der Zahlenreihe des Mathematikers Fibonacci, welche das harmonische Verhältnis des Goldenen Schnitts ausdrückt. Faszinierend“, sagt Siegfried Grauwinkel.

Fast alle Werke sind aus Platzgründen in einem Berliner Depot verwahrt, nur wenige findet man in seinen Privaträumen in Kleinmachnow. Sie alle sind Lieblingsstücke mit innerer Spannung, die ihn täglich erneut in ihren Bann ziehen. Wie die Bilder von Dora Maurer und Hartmut Böhm oder jenes von Eberhard Ross, das mit dem einfallenden Licht korrespondiert und zarte farbige Schimmer an die Wand wirft. An das Kopfschütteln und die Kommentare über seine Sammlung habe er sich gewöhnt, erzählt Siegfried Grauwinkel. Und letztendlich, sagt der Sammler, sei jedes „Das soll Kunst sein?“ oder „Das kann ich auch!“ eine subtile Form der Anerkennung.

Foto: © Victor Heekeren
Text: Katharina Hummert
Datum: Mai 2024

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