Minimalismus als Lifestyle

Viele Menschen wählen einen reduzierten Lebensstil als Gegenentwurf zu übermäßigem Konsum und materiellem Besitz – und erheben einen Trend zur Philosophie. Ist weniger mehr?

WAS WIR UNSER EIGEN NENNEN, PRÄGT UNSERE IDENTITÄT. Diesen Satz formulierte der US-Amerikaner William James, einer der Urväter der modernen Psychologie, bereits vor mehr als 100 Jahren. Seiner These nach beschränkt sich das Selbst nicht auf Körper und Geist, sondern umfasst alles, womit sich der Mensch umgibt – Familie und Freundinnen ebenso wie Kleidung und Hausrat. Doch wie viel materielle Habe ist für ein erfülltes Leben wirklich notwendig? Eine Tonne zum Schlafen, würde der griechische Philosoph Diogenes von Sinope wohl antworten, doch so meinen es die Anhänger des Minimalismus nicht. Ein reduzierter Lebensstil basiert ihrer Überzeugung nach nicht auf radikalem Verzicht, sondern auf der Erfahrung, dass die Trennung von Überflüssigem der erste Schritt zu einem Leben mit weniger Stress und mehr Raum und Zeit für Wesentliches ist. Diese Erkenntnis ist wissenschaftlich belegt: Unordnung, Chaos und ein „Zuviel von allem“ können die Bildung des Stresshormons Cortisol fördern, während sich eine aufgeräumte Umgebung positiv auf Konzentration, Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit auswirken kann.

MEIN HAUS, MEIN AUTO, MEIN PFERD: Der reduzierte Lebensstil ist nicht weniger als ein Gegenentwurf zur Konsumgesellschaft. Denn Minimalismus kann nur dort entstehen, wo kein Mangel herrscht – in einer Wohlstandskultur wie der unseren, wo jeder im Durchschnitt 10 000 Dinge besitzt. Wie viele davon müssen weg? Das kommt darauf an, wen man fragt, denn die Erwartungshaltungen der Minimalistinnen können sehr unterschiedlich sein. Für den einen steht die Ästhetik einer puristischen Wohnung im Fokus, die andere möchte sich einfach freier und unbeschwerter fühlen. Der Popstar unter den Aufräumcoaches ist Marie Kondo. Die US-Amerikanerin rät, nur das zu behalten, was glücklich macht. Das klingt
etwas platt, doch der Weg dorthin ist anstrengend. Stück für Stück werden Kleidung, Bücher, Papiere, Kleinkram und Erinnerungsstücke auf den Prüfstand gestellt – stets in dieser Reihenfolge –, um die Bereitschaft zum „Loslassen“ zu erhöhen. Ihre Kollegin Hideko Yamashita aus Japan dagegen empfiehlt die 12-12-12-Methode: Ein Dutzend Dinge kommt in den Müll, ein weiteres Dutzend wird gespendet, und die letzten zwölf Sachen gehen an ihre ursprüngliche Besitzerin zurück. Regelmäßig angewendet, soll diese Vorgehensweise Kleiderschrank und Schubladen merklich entschlacken. Viel Spaß beim Entrümpeln versprechen die US-Blogger Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus: Am ersten Tag ihrer Dreißig-Tage-Challenge wandert ein Gegenstand in den Müll, an den folgenden Tagen jeweils ein Teil mehr – bei Durchhaltevermögen sind das insgesamt 465 Stück. Die beiden Blogger empfehlen, die Challenge mit der ganzen Familie oder den Mitbewohnern zu praktizieren, um sich gegenseitig zu motivieren. Und auch in Schweden geht es Überflüssigem an den Kragen. Pragmatisch und auf sehr spezielle Weise zukunftsgerichtet ist das „Döstädning“ der Schwedin Margareta Magnusson. Wer ihrer „Todessäuberung“ folgt, sortiert alles aus, um das sich die Hinterbliebenen eines Tages kümmern müssten.

WAS WIRD ALSO AUS DER ÜBER JAHRE zusammengetragenen Plattensammlung oder den vielen Büchern, die mangels Platz noch immer in Umzugskartons auf dem Dachboden stehen? Die gute Nachricht lautet: Sie sollen und dürfen bleiben, genau wie die Lieblingstasse mit dem Sprung. Denn auch das ist ein Aspekt des reduzierten Lebensstils: die Dinge, die wir besitzen, wirklich wertzuschätzen und uns an ihnen zu erfreuen. Ganz gleich, ob es die Tonne zum Schlafen ist oder ein Schrank voller Sneakers.

Foto: ©  Alexandre Zveiger / Shutterstock
Text: Sintje Wilms
Datum: September 2024

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