Meine Professorin, der Avatar

Am Einsteinufer in Berlin-Charlottenburg arbeitet ein Forschungsteam seit 2021 am Projekt VoluProf. Die Mixed-Reality-Anwendung markiert eine neue Qualitätsstufe in der Onlinelehre und lässt erahnen, was morgen selbstverständlich sein wird.

DAS STUDIUM IST EINE ZEIT DES INTENSIVEN WISSENSTRANSFERS geprägt vom Fragen, Hinterfragen, Diskutieren. Studieren bedeutet Austausch, vor allem mit den Dozentinnen und Professoren. Theoretisch funktioniert das gut, das Lehrangebot im Hörsaal und in der digitalen Welt ist groß. Doch wenn die Klausur oder die Abgabe der Semesterarbeit näher und näher rückt, aber wichtige Informationen fehlen, sind die Studierenden von heute nicht besser dran als die Generationen vor ihnen. An dieser Stelle setzt das Projekt VoluProf an. Die Grundidee dahinter: sich den Professor nach Hause zu holen, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr – als Avatar. Die Idee stammt von Dr.-Ing. Cornelius Hellge, dem Leiter der Gruppe „Multimedia Communications“ am Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut (Fraunhofer HHI), in Berlin.

Das Projekt entwickelt eine Mixed-Reality-Anwendung, die per VR-Brille zugänglich ist. Seit 2021 arbeitet ein Forscherteam gemeinsam mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und der Universität Rostock sowie den Unternehmen Deutsche Telekom, Aristech und Volucap an dem Avatar. Er soll foto- und audiorealistisch eine Professorin der Universität Rostock wiedergeben, die mit den Studierenden kommuniziert und dabei alle Anforderungen an die Vermittlung spezifischer Lehrinhalte erfüllt, aber auch ethische Grundsätze und der Datenschutz wollen beachtet sein. Gefördert wird VoluProf vom Bundesforschungsministerium. Wenn das Projekt zum Ende dieses Jahres ausläuft, soll Professorin Avatar die Laborumgebung verlassen haben und sich als Use Case auf echten Netzen bewähren – VoluProf steht also kurz vor der „Marktreife“.

DAS POTSDAMER UNTERNEHMEN VOLUCAP, eine Ausgründung des Fraunhofer HHI, ist verantwortlich für die Erstellung des fotorealistischen Avatars. Dafür produziert das Unternehmen volumetrische Videoaufnahmen, die eine dreidimensionale Abbildung der Professorin gewährleisten. Mithilfe künstlicher Intelligenz werden diese Aufnahmen trainiert, um eine nahtlose Interaktion mit der Professorin in Echtzeit zu ermöglichen. Zudem werden ethische Richtlinien beachtet: Sollte ein Student versuchen, der virtuellen Professorin zu nahe zu kommen, weicht sie zurück. Sie bleibt stets frontal zum Gesprächspartner ausgerichtet. „Die strikte Einhaltung dieser ethischen Standards ist von entscheidender Bedeutung“, betont Sven Bliedung von der Heide, Geschäftsführer von Volucap. „Mit unserem VoluProf-System stellen wir sicher, dass wir die Kontrolle über alle Interaktionen behalten.“

Der zentrale Punkt für die Entwicklung ist aber die Definition und Vermittlung des Gesprächsinhalts. Basis hierfür ist immer das Seminar oder die Vorlesung; potenzielle Fragen und Antworten werden von einer KI vorgeschlagen und anschließend von den Lehrkräften festgelegt. Den Avatar in ein Gespräch über den neuen Italiener im Viertel zu verwickeln ist also nicht möglich. Die Forschungsgruppe arbeitet mit dem Chatbot des DFKI. „Würden wir in diesem Schritt auf ChatGPT zurückgreifen, hätten wir keine Kontrolle über den Content“, sagt Hellge. Das aber ist essenziell für den Erfolg des Projekts. Die mündlich vorgebrachten Fragen der Studentin werden zunächst in einen Text umgewandelt, der von einer KI beantwortet wird. Diese Antwort wird der Studentin von der Professorin akustisch übermittelt; die Stimme generiert die Technologie des Heidelberger Unternehmens Aristech. Das alles muss schnell gehen: „Besonders wichtig ist das Gefühl einer Echtzeitkommunikation“, sagt Cornelius Hellge, „jede Verzögerung wird vom Nutzer als störend empfunden.“ Die Beschränkung auf genau definierte Inhalte ist auch aus einem anderen Grund notwendig: Das virtuelle Treffen mit dem Avatar darf dem Studenten keinen Vorteil gegenüber jenen Kommilitoninnen bringen, die VoluProf nicht nutzen, das würde gegen den Grundsatz gleicher Voraussetzungen für alle Studierenden verstoßen.

DER NÄCHSTE STEP DER FORSCHERINNEN IST DIE RESPONSIVITÄT DER ANWENDUNG, um VoluProf so einfach wie möglich in den Studienalltag zu integrieren. Das sei der leichteste Schritt von allen, sagt Cornelius Hellge: „Die ‚physische‘ Lehre fällt ja nicht weg, die Studierenden kennen ihre Professoren. Aber VoluProf bietet einen erheblichen Zusatznutzen. Und das ist erst der Anfang.“

Foto: © Volucap
Text: Sintje Wilms
Datum: Mai 2024

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