Kaiserbäder und Kleckerburgen

Es gibt sie eben doch, die Eier legende Wollmilchsau: Sie hat in etwa die Form eines Kängurus, liegt 220 Kilometer von Berlin entfernt, bietet einfach alles, für jeden und zu jeder Jahreszeit – und sie ist eine Insel: Usedom.

AUF LANG GESTRECKTEN 66 KILOMETERN verbindet die zweitgrößte Insel Deutschlands die mecklenburgische Ostseeküste mit der polnischen. Zur Hauptreisezeit kann die Anfahrt über eine der zwei Brücken, die die Insel mit dem Festland verbinden, etwas Geduld erfordern, doch sobald das Nadelöhr geschafft ist, warten 445 Quadratkilometer Vielfalt auf die Besucherinnen. Nicht ohne Grund ist Usedom inzwischen die zweitliebste deutsche Insel für Touristen, knapp hinter Rügen. Gedanken an überlaufene Mittelmeerstrände können trotz der großen Beliebtheit dennoch getrost weggewischt werden: Hier verteilen sich die Besucher tatsächlich auf alle 365 Tage im Jahr.

Ob im Auto oder mit der Bahn, wer erst auf Usedom angekommen ist, spürt die Entschleunigung sofort. Die Weite der Insel, grüne Alleen, Rapsfelder und verschlafene Dörfer ziehen gemütlich vorbei, ganz gleich, ob das Ziel eines der zahlreichen Luxushotels, eine gemütliche Pension oder einer der oft fantastisch gelegenen Zeltplätze ist. Schon während der Kaiserzeit entdeckten die Hauptstädter die Insel mit ihrem herrlich milden Ostseeklima und erkoren sie zur „Badewanne Berlins“. Damals entstanden die drei Kaiserbäder Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin. Kaiser Wilhelm II. verbrachte hier mit Vorliebe seine Sommerwochen, und so taten es ihm die gut betuchten Berlinerinnen nach. Aus dieser Zeit stammen die strahlend weißen Strandvillen, die bis heute das Bild der Promenade prägen, die die drei Orte miteinander verbindet. Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie hier schon damals flaniert wurde, das Sonnenschirmchen auf der Schulter, auf einer der hübschen Bänke pausierend, den Blick über den weißen Sandstrand und die gleichmäßig heranschwappenden Wellen der Ostsee schweifend. Stärken konnte man sich – damals wie heute – zum Beispiel im Café Asgard in Bansin, das seit 1898 Torten und Co. serviert. Stoffbezogene Wände, plüschige Sessel und kitschig anmutendes Porzellan machen die Zeitreise perfekt.

HERINGSDORF, DAS WOHL BEKANNTESTE KAISERBAD IM OSTEN DER INSEL, strebt mit seinen historischen Seebrücken und der prachtvollen Architektur nun sogar den Status als Weltkulturerbe an. Im Sommer wie im Winter laden der breite Strand und die traumhafte Promenade zu ausgiebigen Spaziergängen, Läufen oder Radtouren ein. Relaxen im Strandkorb, Schwimmen oder Wellness in einem der entspannten Luxushotels, kleine Shoppingtouren durch die einladenden Boutiquen oder Kultur in den Galerien und Konzertmuscheln: Für jedes Wetter und jeden Anspruch findet sich ein passgenaues Tagesprogramm. Wiederkehrende Events wie die Kaiser Classic Tour locken begeisterte Besucher auf die Insel: Auch dieses Jahr im September rollen wieder echte Klassiker durch die Kaiserbäder, und Oldtimerfans aus allen Ecken Deutschlands genießen das einzigartige Ambiente auf und neben der Straße.

Auch gastronomisch gibt es für jeden Geschmack den passenden Ankerpunkt. Mit Kulmeck by Tom Witboldt und The O’Room zählt die Insel inzwischen zwei Restaurants mit Michelin-Stern, beide in Heringsdorf. Aber ein Fischbrötchen der Fischräucherei Brüder Schwarz, genossen mit Seeblick und Wind um die Nase, kann ebenso unvergesslich sein.

ETWAS WENIGER BEKANNT, ABER MINDESTENS GENAUSO MALERISCH sind die vier Bernsteinbäder. Im schlanken Mittelteil der Insel reihen sich Zempin, Koserow, Loddin und Ückeritz aneinander. Zempin liegt am Achterwasser und ist das kleinste Seebad Usedoms. Die Zehen im weißen Sand vergraben und die unaufgeregte Atmosphäre des ehemaligen Fischerdörfchens genießend, lässt sich die Auszeit an der Ostsee ganz wunderbar aushalten. Im benachbarten Koserow kommen auch die Angler auf ihre Kosten. Selbst in Hochzeiten findet sich im Sand unter dem waldbewachsenen Küstenstreifen immer ein abgelegenes Fleckchen zum Ausspannen. Über die Steilküsten Loddins geht es dann weiter ins Wassersportparadies Ückeritz. Beliebt bei Surferinnen und Kitesportlern, aber auch bei Seglerinnen und Stand-up-Paddlern findet sich hier eine in den 1930er-Jahren entstandene Künstlerkolonie, in der Oskar Manigk und Matthias Wegehaupt inzwischen in zweiter Generation kreativ sind.

Wieder in Bansin angekommen, erreicht man den Ausgangspunkt von Europas längster Strandpromenade. Sie verbindet Bansin mit Heringsdorf, Ahlbeck und Swinemünde auf der polnischen Seite Usedoms. Beim Strandspaziergang quasi aus Versehen im Nachbarland landen – das kann nur auf Usedom passieren. Zwölf Kilometer voller historischer Badekarren, Konzertplätze, Dünen und weißer Villen verbinden Deutschland mit seinem Nachbarn Polen. Seit 2007 ist die Grenze offen, den Grenzstreifen hat die Natur zurückerobert. Nur ein kleines Klammertor zwischen Ahlbeck und Swinemünde erinnert noch an die Trennung. So lässt sich sogar ein gutes Stück Geschichte im Potpourri von Usedoms Vielfalt finden. Immer schön, immer besonders, nie langweilig. Auf der richtigen Insel gibt es kein schlechtes Wetter, sie ist zwölf Monate im Jahr das perfekte Reiseziel.

Foto: © travelview / Shutterstock, © Meinzahn_iStock
Text: Anne Rudelt
Datum: Mai 2024

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