Prof. Dr. Andreas Michalsen ist Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus und Lehrstuhlinhaber für Klinische Naturheilkunde an der Charité Berlin. Ein Interview über persönliche Positionen
Herr Professor Michalsen, was haben Sie heute Morgen gefrühstückt? Haben Sie überhaupt gefrühstückt?
Ich habe nur einen halben Apfel gegessen. Das lag ein bisschen an der Zeitnot heute Morgen. Aber ansonsten habe ich mir das Frühstück wieder angewöhnt. Haferflocken, Porridge, Blaubeeren…
Gönnen Sie sich manchmal eigentlich ein Extra, oder sind Sie sehr streng mit sich?
Ja, bei zwei Punkten bin ich „straight edge“. Es hat nicht nur etwas mit der Gesundheit, sondern auch mit der persönlichen Überzeugung zu tun. Ich bin jetzt seit 20 Jahren Vegetarier. Das hat zu 90 Prozent mit der Gesundheit angefangen, aber den letzten Sonntagsbraten habe ich mir aus ethischen Gründen abgewöhnt. Und beim Alkohol bin ich auch konsequent. Ich habe früher sehr gern guten Wein getrunken, doch dann habe ich angefangen, mich mit Meditation und Yoga zu beschäftigen, und festgestellt: entweder – oder. Andererseits soll Ernährung keinen Stress machen oder Askese bedeuten, Ausnahmen dürfen sein.
Ihr Vater und Ihr Großvater waren beide Kneipp-Ärzte. Hat das Ihre Berufswahl, Ihr Interesse für Naturheilkunde beeinflusst?
Bei uns ging es richtig zur Sache: Mein Großvater und Vater haben mit dem Eispickel ein Loch in den See geschlagen und Eisbäder genommen. Freitag war der Fastentag meines Vaters, an dem er immer nur ein paar Weizenkeime gegessen hat. Da bin ich dann in Widerstand gegangen und wollte deswegen auch erst kein Arzt werden. Irgendwie bin ich es doch geworden – Intensivmedizin, Kardiologie –, und dann hat es mich eingeholt. Ich habe gemerkt, na ja, das ist auch alles nicht sehr nachhaltig, was ich da mache. Mein Vater und mein Großvater dagegen versuchten, präventiv zu arbeiten. Also bin ich in die Naturheilkunde gegangen. Das nennt man wohl „genetische Belastung“ (lacht).
Was an Naturheilkunde ist so spannend für Sie?
Dass es wirklich an die Ursache geht. Die moderne Medizin ist sehr erfolgreich, aber sie ist ganz selten ursächlich. Da wird zum Beispiel ein Stent gesetzt. Damit ist die Erkrankung aber nicht geheilt. Die Naturheilkunde dagegen geht an die Ursache. Und, das fasziniert mich ebenfalls: Man kann mit einer Maßnahme vielen Erkrankungen vorbeugen. Drittens, das meiste davon kann man selbst machen.
Sie sind Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus und Lehrstuhlinhaber für Klinische Naturheilkunde an der Charité Berlin, dazu Ernährungsexperte, Bestsellerautor … Gibt es zwischen Naturheilkunde und Ernährung eine direkte Verbindung?
Ja, es gibt die fünf klassischen Säulen, wie sie von Pfarrer Kneipp und anderen definiert wurden. Die wichtigste Säule ist immer die Ernährung, dazu gehört auch das Fasten. Dann kommen Sport und Bewegung, als Drittes sind es die Heilpflanzen. Die vierte Säule sind Kälte, Wärme, Wasser – physikalische Reize eben –, und Nummer fünf ist die Stressreduktion, wir nennen es Mind-Body-Medizin.
Naturheilkunde wird von einigen Medizinern ein wenig belächelt. Warum engagieren Sie sich auf dem Gebiet Naturheilkunde, und wie kann oder könnte sie mit der klassischen Medizin korrespondieren, den Nutzen für Patientinnen vielleicht sogar dramatisch erhöhen?
Meiner Ansicht nach ist das ein lösbares Problem. Wir leben in einer wissenschaftsgetriebenen Zeit. Das finde ich sehr gut. Es verwundert natürlich nicht, dass es zum Thema Naturheilkunde nicht so viel Forschungsmaterial gibt wie zu einer neu entwickelten Bluthochdrucktablette. Aber wir sind auf einem guten Weg. Wir haben verschiedene Lehrstühle in Deutschland, sind international organisiert. Wir betreiben viel Forschungsarbeit. Ich glaube, wir tun sehr gut daran, die Naturheilkunde auch in der Forschung zu fördern, sonst haben wir am Ende eine rein industriegetriebene Medizin.
Wo sehen Sie die Grenzen der Naturheilkunde?
Bei akuten Erkrankungen kann man mit Naturheilkunde nicht mehr viel machen. Wenn ich einen Herzinfarkt habe, eine Fraktur oder eine akute Blinddarmentzündung, da würde ich auch keine Akupunkturnadeln haben wollen. Es bereitet mir manchmal Kopfschmerzen, dass mit der großen Popularität der Naturheilkunde diese Grenzen nicht immer gesehen werden. Eine Chemotherapie kann man nicht durch Heilpflanzen ersetzen. Das ist paradox – ich muss Menschen oft klarmachen, wie wichtig die Schulmedizin ist: Sie ist die erste Wahl. Dann kommt die Naturheilkunde.
Die naturheilkundliche Behandlung ist ja vergleichsweise preiswert. Wäre es nicht sinnvoll, den naturheilkundlichen Ansatz stärker in die Ausbildung von Ärzten zu integrieren, um Kostensteigerungen im Gesundheitswesen entgegenzuwirken?
Genau das machen wir. Derzeit gibt es nur 17.000 Ärzte bei uns mit der Zusatzausbildung Naturheilverfahren, aber die Zahlen steigen. Niedergelassene Ärztinnen haben einen inhärenten Nachteil: Wenn ich einen Patienten eine halbe Stunde lang berate – Ernährung, Sport, Yoga –, ist das ein wirtschaftliches Desaster für die Praxis. Wirtschaftlichkeit beruht auf Apparatemedizin. Wir haben die völlig falschen Honoraranreize im Gesundheitswesen.
Von Ihnen stammt die Aussage: „Moderne Naturheilkunde ist durch ihre Verwurzelung in der weltweiten traditionellen Medizin die angemessene globale Medizin.“ Können Sie das ein bisschen ausführen?
Wir steuern auf die neunte Milliarde Menschen zu, haben sehr bevölkerungsreiche Erdteile, die noch bevölkerungsreicher werden. Und überall auf der Welt gibt es Naturheilkunde. Bei uns Pfarrer Kneipp und Fasten, in China Qigong, Heilpflanzentherapie oder Akupunktur, in Indien Ayurveda und Yoga. Die WHO hat aus gutem Grund schon vor Jahren in einem Leitpapier die traditionelle Medizin als die „geeignete Basismedizin“ bezeichnet, die wir uns bei dieser großen Zahl an Menschen sowohl von den Kosten als auch von der Zugänglichkeit her leisten können.
Wie ist die Einstellung zur Naturheilkunde in anderen europäischen Ländern, und wo steht Deutschland in diesem Kontext?
Eine spannende Frage! Deutschland ist auf jeden Fall ein „Naturheilkunde-Stammland“. Wir haben eine besondere Beziehung zur Natur. Eine aktuelle europäische Befragung stellt fest, dass 50 Prozent der deutschen Bevölkerung mit Naturheilverfahren behandelt werden möchten. In Frankreich und Spanien dagegen ist der Anteil sehr gering. In Osteuropa und in den arabischen Ländern ist der Zuspruch noch stärker als bei uns hier und – interessant: In den USA ist man viel weiter, was die institutionelle Verankerung betrifft. Es gibt dort mehr als 240 Krankenhäuser, die sich zu einem Konsortium für integrative Medizin zusammengetan haben. Die Amerikaner sind pragmatisch: It works, so we do it.
Noch ein kleiner Exkurs zu Ihrer Autorentätigkeit. Seit Jahren publizieren Sie Ratgeber-Bestseller – wo begegnen Ihnen Ihre Themen?
Der Anlass für das erste Buch war eigentlich, dass ich sehr oft die gleichen Ausführungen wiedergegeben habe in meinen Sprechstunden, bei meinen Visiten, und ich immer wieder gefragt wurde: „Kann ich das irgendwo nachlesen?“ Ich beforsche gern Themen, die ich als relevant betrachte und bei denen ich sehe, dass bislang noch nichts oder nur wenig publiziert wurde. Das können auch mal ganz spezielle Themen sein wie Blutegeltherapie bei Arthrose. Oder als ich angefangen habe, zum Thema Fasten zu forschen. Da war mir klar: Du musst jetzt selbst fasten, sonst kannst du nicht authentisch dazu forschen und darüber berichten. Insofern hat sich das alles immer mit viel Eigeninteresse durchmischt.
Letzte Frage. Was essen Sie am liebsten?
Spaghetti Albania von meiner Frau mit viel saisonalem Gemüse, Knoblauch und Parmesan. Wie eingangs erwähnt: Gesunde Ernährung hat nichts mit Askese zu tun.
Interview: Christian Bracht
Foto: © Lena Giovanazzi
Datum: Mai 2024
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