Kunst einen Raum geben

Für das Sprechtheater begeisterte er sich früh, für die Oper erst später. Doch von da an bestimmte sie sein Leben. Dietmar Schwarz blickt auf zwölf Jahre als Intendant der Deutschen Oper Berlin zurück. Ein Besuch an seiner Wirkungsstätte – und der Versuch einer Bilanz

IM LICHTDURCHFLUTETEN INTENDANZBÜRO besetzt ein riesiges schwarzes Insekt die Stirnseite des Raums. Mit einem Bein scheint es in der Verkabelung des Laptop-Tisches zu hängen, während sich die zangenförmigen Fühler Richtung Oberlicht strecken. Eine Verbeugung vor Kafkas „Verwandlung“? Nein, das Werk eines befreundeten Künstlers, erklärt Dietmar Schwarz, der ihn spontan nach einem Tier gefragt habe. „Heraus kam die Ameise“ – die seitdem hundertfach vergrößert über Konferenzen, Telefonate und Interviews wacht. In der berühmten Fabel von Jean de la Fontaine verkörpert das unscheinbare Insekt den fleißigen, aber geizigen Vorausschauenden, der die Grille, die nur für ihre Kunst lebt, mit knurrendem Magen stehen lässt. Doch Schwarz bevorzugt die komplexere Deutung des Psychiaters C.G. Jung, für den die Ameise Ordnung und Chaos zugleich ausdrückt. „Eine treffende Metapher für meinen Job“, sagt Schwarz und lacht, „ähnelt das Gewimmel eines Ameisenhaufens doch dem des Opernbetriebs. Chaos, das sich erst beim genauen Hinsehen als ausgeklügeltes System offenbart.“

FÜR KÜNSTLERISCHE FREIRÄUME, die sich nicht in Auslastungszahlen niederschlagen, hat sich Schwarz im Laufe seiner Intendanz immer wieder starkgemacht. Dass er seine Ära im Juli 2025 mit Kurt Weills und Bertolt Brechts Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ beenden will, scheint konsequent. „Die Kluft zwischen Arm und Reich, die Brecht darin anprangert, ist heute aktueller denn je.“ Regisseur Benedikt von Peter plant dafür, die Bühne über den Zuschauerraum bis ins Foyer zu öffnen, wobei das Publikum Teil der Inszenierung werden soll. Mit einem ähnlichen Konzept polarisierte von Peter, den Schwarz aus seiner Zeit in Basel kennt, bereits 2015. Da setzte er in Verdis „Aida“ den Chor zwischen die Zuschauer und machte so die Stimme des Einzelnen simultan zu dem des Kollektivs erlebbar. Das forderte nicht nur das Publikum, sondern auch die Sänger zu völlig neuen Erlebnissen heraus. Bei der Premiere sei die Inszenierung von der Hälfte des Publikums ausgebuht worden, erinnert sich Schwarz. „Inzwischen genießt sie Kultstatus, ein hochpolitisches Stück – denn Demokratie beginnt doch beim Zuhören.“

SCHARF AUF BERLIN“ SEI ER NICHT UNBEDINGT GEWESEN, erklärt Schwarz. Obwohl ihm das als „Mann aus der Provinz“ unterstellt worden sei. Wie zur Bestätigung jaulen Motoren auf, zwei Raser auf der Bismarckstraße liefern sich ein Wettrennen. Als ihm der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit Ende 2009 die Intendanz anträgt, feiert man Schwarz in Basel gerade als Operndirektor, der dem Haus mit kreativem Spielplan und mutigen Neuinszenierungen zum ersten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingebracht hat. Und so reizvoll der Karrieresprung klingt – Schwarz weiß um die Unterfinanzierung des Berliner Hauses. Zudem gilt der dortige Intendantensessel als „Schleudersitz“, auf dem zuletzt die damalige Intendantin Kirsten Harms mit ihren anspruchsvollen Ideen nicht hat glücklich werden können. Dass Schwarz trotzdem einen Vertrag ab der Spielzeit 2012/13 unterschreibt, liegt auch an der Aussicht auf eine zusätzliche Spielstätte, verrät er: In der ehemaligen Tischlerei kann er eine Experimentierbühne einrichten. Als „Zukunftslabor des
Musiktheaters“ bezeichnet er sie liebevoll, in dem die Kriterien für zeitgenössische Oper nicht wissenschaftlich festgezurrt werden, „sondern sich frei aus den unterschiedlichsten Genres speisen – sei es Weltmusik, Techno, Jazz oder Pop. Wichtig dabei ist“, betont Schwarz, „dass nicht nur Unerhörtes erklingt, sondern Projekte auch mal scheitern dürfen.“ In der Konzeption des großen Hauses habe er sich diesen Mut nicht herausnehmen können – umso glücklicher blickt Schwarz auf die Entwicklung der Tischlerei, für die er seit 2013 einen eigenen Preis ausschreibt. Er dient insbesondere jungen Komponistinnen als Karrieresprungbrett.

SCHWARZ , JAHRGANG 1957, WÄCHST IN BIBERACH AN DER RISS AUF – in einem Elternhaus, in dem Musik zum Alltag gehört. Beide Eltern spielen Klavier. Die Mutter schwärmt für die Wagner-Primadonna Martha Mödl, der Großvater, der eigentlich Priester hat werden wollen, singt mit Inbrunst Kunstlieder – „am liebsten Schubert“. Auch Schwarz versucht sich am Klavier. „Für meine Eltern eine Qual“, sagt er. Sein Herz schlägt zunächst fürs Sprechtheater. In der Biberacher Bürgerlichen Komödiantengesellschaft – mit der Christoph Martin Wieland 1761 zum ersten Mal Shakespeares „Sturm“ auf Deutsch aufführte und die als ältester Theaterverein Deutschlands gilt – steht Schwarz als Zehnjähriger in der Komödie „Der Raub der Sabinerinnen“, später in Brechts „Dreigroschenoper“ auf der Bühne. Seine erste Oper hört er mit 13: Verdis „Liebestrank“ in Stuttgart. Doch der Funke zündet erst Jahre später, als er in München und Paris Musik- und Theaterwissenschaften studiert. Seitdem beschäftige er sich ausschließlich mit dem Musiktheater, sagt er. Nach Stationen als Dramaturg in Freiburg, Bremen und Frankfurt leitet er im Ruhrgebiet das Festival „Aufbrechen Amerika“. 1998 wird er Operndirektor in Mannheim, von wo er in gleicher Funktion nach Basel wechselt. 2012 zieht er schließlich ins Intendanzbüro der Deutschen Oper Berlin ein.

Schwarz schließt das Fenster, das Motorengeheul auf der Bismarckstraße ist zu laut geworden. Rückblickend hat er einen langen Atem bewiesen. Begonnen mit der Tischlerei, für die ihm gleich zu Beginn Kritik aus der freien Szene entgegenschlug, da sie um ihr Revier fürchtete. Aber auch das Orchester reagierte skeptisch ob der zusätzlichen Arbeitsbelastung. Dessen chronische Unterbezahlung konnte Schwarz erst 2017 durch einen neuen Haustarif auffangen. „Inzwischen lieben die meisten Musiker am Haus die Tischlerei-Projekte“, sagt Schwarz. Zudem habe der experimentelle Input Spiel- und Performance-Techniken verfeinert.

IN DER ZEICHNUNG SEINES INTENDANTENPROFILS BLEIBT SCHWARZ EIN SUCHENDER. Immer wieder muss er sein Konzept der Vielseitigkeit – mit vierzig Repertoire-Stücken – gegen den Vorwurf der Beliebigkeit verteidigen. Er besteht auf Wagner, Strauss, Verdi und Puccini als zentralen Repertoire-Komponisten, deren opulente Werke auch die Größe des Hauses und dessen akustische Möglichkeiten präsentieren. Doch bei Neuinszenierungen der Opernklassiker interessierten ihn die vernachlässigten Aspekte der Partitur, die ein bekanntes Stück in ungewohnte Klangwelten versetzen.

Als Schwarz 2017 nach 33 Jahren den legendären „Ring des Nibelungen“ in der Inszenierung des langjährigen Generalintendanten Götz Friedrich absetzt und sich gegen den Erhalt des Bühnenbilds ausspricht, flammt eine heftige Debatte über den Umgang mit dem Erbe des Hauses auf. Sinn und Unsinn der Spielpläne in der Berliner Opernlandschaft werden 2022 diskutiert, als kurz hintereinander an der Deutschen Oper und der Staatsoper ein neuer „Ring“ vom Stapel läuft. Eine Situation, die Schwarz trotz Planungstransparenz nicht verhindern kann.

WERKEN ABSEITS DES REPERTOIRES verhilft Schwarz zu überraschend großem Publikumserfolg. So feiert Erich Korngolds „Wunder der Heliane“ in der Regie Christoph Loys einen spektakulären Erfolg. Die Fachzeitschrift Opernwelt zeichnet es 2018 als „Wiederentdeckung des Jahres“ aus. Schließlich sucht Schwarz auch nach Stücken, die einen besonderen Bezug zur Stadt haben, für die Konkurrenzhäuser aber zu sperrig sind. Von 2017 bis 2021 bestimmten Werke des deutschjüdischen Grand-OpéraKomponisten Giacomo Meyerbeer den Spielplan der Deutschen Oper.

Und immer wieder lässt sich Schwarz von Künstlern inspirieren, die zum ersten Mal mit der Kunstform Oper in Berührung kommen. Von der Schauspielregisseurin Pınar Karabulut, die 2023 mit Puccinis Operntriptychon debütiert. Oder der Komponistin Rebecca Saunders, die zu Schwarz’ Abschied 2025 ihre erste Oper am Haus uraufführen wird. Er sei kein Künstler-Intendant, sagt Schwarz. Doch er bereitet unterschiedlichsten schöpferischen Persönlichkeiten den Boden, weil er die künstlerische Praxis von Anfang an als Teamarbeit auf Augenhöhe begreift.

SO IST AUCH SCHWARZ’ LETZTER COUP – das Publikum als Teil der Inszenierung bei „Mahagonny“ – als weitaus mehr als ein Heischen um Aufmerksamkeit zu verstehen. Es ist ein Plädoyer für die Möglichkeiten der Kunst und für den Raum, den sie in unserer Gesellschaft einnehmen soll.

Text: Antonia Munding
Foto: © Alena Schmick
Datum: September 2024

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