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Nearshoring – das Ende der Globalisierung?

Die weltweite Wirtschaft ist eine Erfolgsgeschichte. Doch nachdem Unternehmen jahrzehntelang Aufgaben ins ferne Ausland verlagert haben, holen viele nun ihre Produktion und damit die Arbeitsplätze nach Europa zurück.

Lange Lieferketten sind verwundbar. Seit der Coronapandemie haben die vergangenen Jahren gezeigt, wie anfällig die globale Liefer- und Produktionsinfrastruktur ist. Auf das Erfolgsmodell der weltweiten Arbeitsteilung ist immer weniger Verlass. Selbst Autokonzerne wie VW und BMW produzierten 2020 aufgrund des Chipmangels nur noch im Stop-and-Go-Verfahren, ein Jahr später mangelte es auf den Baustellen sogar an einfachen Spanplatten, Stahl und Plastik. Acht von zehn Unternehmen litten laut einer Ifo-Umfrage unter Lieferengpässen.

Grund genug für immer mehr Firmen, auf die Landkarte zu schauen. Nearshoring heißt das Zauberwort. Gemeint ist die Rückverlagerung von Produktionsstätten aus fernen Kontinenten ins nahe gelegene Ausland. Das stabilisiert die Lieferkette. Unternehmen aus den DACH-Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz sorgen beispielsweise dafür, dass sich die Fabriken und Zulieferbetriebe, die dem Hauptsitz Komponenten zur Weiterverarbeitung oder sogar fertige Produkte liefern, in den Nachbarländern befinden.

Durch die Nähe zu den Märkten können die Firmen schneller auf Nachfrageänderungen reagieren und Engpässe vermeiden. Darüber hinaus lässt sich die Qualität ihrer Produkte besser kontrollieren. Mehr noch: Dank der Verlagerung der Produktion in die Nähe des Firmensitzes können Unternehmen ihre Standards leichter durchsetzen und die Prozesse effizienter gestalten. Auch aus datenschutzrechtlicher Sicht hat Nearshoring Vorteile. Denn innerhalb der EU besteht eine höhere Rechtssicherheit als bei Unternehmen, die ihren Sitz beispielsweise in Asien haben. Paradigmatisch für diese Entwicklung steht die Softwareentwicklungsbranche.

Nachhaltigkeit spielt ebenfalls eine Rolle: Durch die Verkürzung der Transportwege können Unternehmen ihren CO₂-Fußabdruck reduzieren – darauf achten viele Verbraucher.
Die USA investieren mit dem 2022 verabschiedeten „Chips and Science Act“ über einen Zeitraum von fünf Jahren insgesamt 280 Milliarden Dollar, um die Halbleiterindustrie in „God’s Own Country“ zu fördern. Ziel ist es, die ins Ausland verlagerte Produktion von Halbleitern in die Vereinigten Staaten zurückzuholen sowie die Grundlagenforschung und Technologieinnovation zu fördern. Daneben soll das Gesetz die Abhängigkeit von anderen Ländern verringern und den heimischen Arbeitsmarkt stärken.

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Auch deutsche Unternehmen reagieren, indem sie auf Nearshoring und Reshoring setzen. Heißt: Das Zulieferernetz spannt sich nicht mehr weltweit, sondern nur noch über Deutschland (Reshoring) und die Nachbarländer (Nearshoring). Der Berliner Softwareentwickler und IT-Dienstleister Vialutions etwa lässt die Programme für seine Kunden im polnischen Breslau entwickeln. „Nearshoring funktioniert“, berichtet Geschäftsführer Andreas Pohling. Durch die enge Einbindung der Entwickler in die Kundenteams und die agile Herangehensweise habe man bereits IT-Projekte bei mehr als 60 Kunden erfolgreich umgesetzt. „Die Konstellation aus deutschsprachiger Projekt- und Supportstruktur und polnischen Entwicklern sichert seit fast 15 Jahren den Projekterfolg für unsere Kunden“, blickt Pohling zurück.

„Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Nearshoring-Dienstleistern bietet angesichts des Fachkräftemangels eine Win-win-Strategie, die schnelle Abhilfe für den Engpass der Personalressourcen schafft“, ergänzt Davide Criscione, Gründer und Chef des Beratungsunternehmens dc nearshoring. Durch die Auslagerung ganzer Projekte in nahe gelegene Länder oder eine mittelfristige Projektunterstützung durch ausländische IT-Dienstleister könnten Unternehmen auf einen größeren Pool hoch qualifizierter Talente zugreifen.

Vialutions-Geschäftsführer Pohling sieht darüber hinaus auch Kostenvorteile: „Die Tagessätze sind noch immer günstiger als im DACH-Raum, und es gibt keine Zeitverschiebung oder kulturelle Diskrepanzen, die das Projekt gefährden könnten.“ Zudem gebe es gerade in Polen hervorragende IT-Fakultäten, was den Zugriff auf qualifizierte Spezialisten ermögliche. Für Sören Dressler, Professor für Internationales Controlling an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, sind die mittel- und osteuropäischen EU-Staaten besonders interessant. „In Standorten wie Budapest, Bratislava, Prag, Krakau, Łódź, Stettin oder Bukarest finden sich ausreichend Deutsch-, Englisch- und Französischkenntnisse“, so der Experte auf dem Gebiet des Service-Nearshorings.

Nearshoring kann für deutsche Unternehmen auch etwas ganz anderes als die Rückverlagerung der Fabrikation in ein Nachbarland bedeuten. Bisweilen ist damit die Produktion in der Nähe der jeweiligen Absatzmärkte gemeint. ebm-papst ist eines von vielen mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die sich Gedanken über ihre Abhängigkeit von China machen. Der Ventilatoren- und Motorenhersteller aus dem Hohenlohekreis im Nordosten Baden-Württembergs befürchtet, dass potenzielle westliche Sanktionen oder ein Konflikt um Taiwan den Handel stören könnten.
Um im Reich der Mitte eigenständig und bestmöglich auf Kundenbedürfnisse und lokale Marktanforderungen einzugehen sowie unabhängige Lieferketten zu etablieren, verfolgt ebm-papst die Strategie „Local for local“. An vier Standorten in der Volksrepublik sowie in Hongkong beschäftigt das Unternehmen knapp 2000 Mitarbeiter und investiert dort in Forschung und Entwicklung, um die Produkte schnell anzupassen. Vertriebsvorstand Thomas Nürnberger bringt das Konzept auf den Punkt: „Wir denken global und handeln lokal – so bauen wir unsere Standorte in den Regionen Asien-Pazifik, Amerika und Europa kontinuierlich aus und richten sie auf die lokalen Märkte aus.“

Die Zunahme von Nearshoring bringt nicht nur Vorteile für die Unternehmen selbst, sondern hat auch positive Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft. Laut einer Studie des Swiss-Re-Instituts könnten die erforderlichen privaten Investitionen in Fabriken und Ausrüstung dem hiesigen Bruttoinlandsprodukt bis 2026 einen durchschnittlichen jährlichen Schub von 1,7 Prozent verleihen und damit die möglichen negativen Auswirkungen reduzierter Handelsströme überwiegen.
Auch wenn Nearshoring gekommen ist, um zu bleiben: Die Globalisierung ist damit nicht am Ende. „Nearshoring ist eine Korrektur der übermäßigen Ausdehnung der Lieferketten“, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. „Das ist sinnvoll, weil das Verhältnis zwischen Sicherheit und Rentabilität bislang nicht gut ausbalanciert war.“ Auch Dirk Dohse vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel sieht keine grundsätzliche Trendumkehr: „Das ist nicht das Ende der Globalisierung, sondern eher eine Anpassung.“ 

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