Berlin ist die Gesundheitshauptstadt Deutschlands. Das spiegelt sich in der prosperierenden Medtech-Start-up-Szene wider. Die Protagonisten der neuen Generation junger Unternehmen gehen vermehrt den körpereigenen Prozessen auf die Spur – damit die Menschen lange leben.
Ein schicker, futuristisch anmutender Empfangstresen in knalllila – das ist man von Arztpraxen im zuweilen behäbigen Berlin-Mitte nicht gewohnt. Florian Meissner hat sich bewusst für ein freundliches und modernes Erscheinungsbild seines Bluttestzentrums in der Rosenthaler Straße entschieden. Meissner ist einer der Gründer des Start-ups Aware. Das Unternehmen bietet Menschen, die vorbeugen wollen, zweimal im Jahr einen umfangreichen Bluttest an. Per App buchen sie den Termin, krempeln wenig später in einer Kabine des Ladenlokals die Ärmel hoch – und haben noch am selben Tag alle wichtigen Daten der Blutanalyse auf ihrem Mobiltelefon. „So trägt man seine inneren Werte stets in der Hosentasche mit sich herum“, sagt Meissner. Vor drei Jahren wurde Aware gegründet, im vergangenen Jahr das erste Testzentrum in Berlin eröffnet. Mittlerweile gibt es auch Standorte in München und Frankfurt. Weitere in Deutschland stehen kurz vor der Eröffnung, die Expansion nach Österreich und in die Niederlande ist geplant. „Wir haben ein super Feedback von mehreren Tausend Kunden“, sagt Meissner.
Für Berlin ist der Gesundheitsmarkt ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. 21.400 Unternehmen erwirtschaften einen Jahresumsatz von rund 20 Milliarden Euro und beschäftigen fast 355.000 Mitarbeiterinnen. Damit gehört die deutsche Hauptstadt weltweit zu den Top-3-Standorten, übertroffen nur von London und dem Medizinmekka Boston. Nicht nur etliche etablierte Unternehmen, 40 wissenschaftliche Einrichtungen und diverse Hochschulen mit mehr als 150 Studiengängen in den Bereichen Gesundheit und Lebenswissenschaften haben in Berlin ihren Sitz. Auch die Start-up-Szene ist groß. 700 junge Unternehmen im Bereich Digital Health wurden gegründet – und Jahr für Jahr werden es mehr. Sie entwickeln mobile Apps und Wearables, die Menschen mit Lösungen für die Prävention, Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Pflege unterstützen. Sie bieten Softwarelösungen für Gesundheitseinrichtungen an, die den Dokumentationsaufwand reduzieren und das Personal- und Patientenmanagement erleichtern. Der Einsatz modernster Technologien wie künstlicher Intelligenz oder Big Data beschleunigt diese neuen Anwendungen.
Der Serienunternehmer und promovierte Biochemiker Andreas Bergmann sieht vor allem zwei Trends. Zum einen die personalisierte Medizin, für die Biomarker eingesetzt werden. Biomarker sind biologische Merkmale, die im Blut oder in Gewebeproben gemessen und bewertet werden. So können krankhafte Veränderungen frühzeitig erkannt werden. Das von Bergmann 2002 in Berlin gegründete Unternehmen SphingoTec entwickelt Tests für innovative Biomarker, um etwa die Nierenfunktion bei Schwerkranken in Echtzeit festzustellen – und gegebenenfalls gegenzusteuern zu können. Trend zwei: „Was jetzt ganz stark kommt, ist die Langlebigkeitsforschung“, sagt Bergmann. „Wie können die Menschen mit der richtigen Ernährung und einem förderlichen Lebensstil lange und gesund leben?“
Aufgrund solcher Innovationen sowie der insgesamt breiten Palette hat der Digital-Health-Sektor in Berlin deutschlandweit 2021 den ersten Platz im Bereich der Start-up-Finanzierungen erreicht: Mit 519 Millionen Euro wurde so viel Kapital wie nirgendwo sonst in die jungen Unternehmen investiert. „Berlin hat sich zu einem der attraktivsten Standorte in Europa für Life Science und Gesundheitswirtschaft und zu einem wichtigen Zentrum im Bereich der digitalen Technologien entwickelt“, sagt Petra Schmauß, Bereichsleiterin für Medizintechnik, Versorgung und Digital Health bei Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie. Damit sei Berlin der „place to be“ für Innovationen im Bereich Digital Health und bilde den perfekten Rahmen für die Entwicklung digitaler Lösungen für den Gesundheitsmarkt sowie den Markteintritt. „Berlin punktet vor allem bei der guten Vernetzungsmöglichkeit als attraktiver Standort“, sagt Schmauß. Im Ökosystem finde sich eine herausragende Forschungs- und Kliniklandschaft. „Mit der Charité haben wir einen Akteur, der über die Grenzen Europas hinaus hoch angesehen ist.“
Das ist ein großer Vorteil in einem grundsätzlich nicht ganz einfachen, da streng regulierten Marktsegment. Meissner zum Beispiel musste vor der Eröffnung seines ersten Standorts in Mitte etliche Details mit dem Gesundheitsamt abstimmen. Er empfindet das aber nicht als Gängelung, sondern im Gegenteil als Qualitätssiegel: Aware testet in Kooperation mit einem renommierten Labor 44 Biomarker und gibt damit eine viel umfassendere Blutanalyse als das „große Blutbild“, das Menschen ab 35 Jahren alle drei Jahre kostenlos beim Arzt machen können. Die Nutzerinnen können diesen Check alle sechs Monate machen, sodass sie jederzeit auf dem aktuellen Stand sind und Entwicklungen erkennen. „Unsere Kunden beugen vor, damit sie gar nicht erst krank werden“, sagt Meissner. Bei Auffälligkeiten können sie sich von einem Telemediziner beraten lassen. Das ist den „Tausenden Kunden“ seit dem Start des jungen Berliner Unternehmens immerhin 180 Euro pro Jahr wert. Die Kosten könnten demnächst zwar von den Krankenkassen übernommen werden; Meissner steckt gerade in Verhandlungen. Aber schon ohne diese Kostenübernahme expandiert das Start-up. Das Kapital dafür ist vorhanden. Namhafte Business Angels und Venture-Capital-Geber haben Aware von Anfang an unterstützt. Viele davon, etwa Cherry Ventures, kommen aus der Berliner Szene. „Es gibt in Berlin ein enges Netzwerk, das sich hilft und unterstützt“, sagt Meissner. Allerdings hat er den Vorteil, dass er schon in früheren Jahren in Berlin ein Start-up gegründet hatte.
Ein noch erfahrenerer Unternehmer ist Florian Höppner. Er lernte Alexander Meyer kennen, als dieser aus seiner Idee ein Start-up machen wollte. Der gemeinsame Erfahrungsschatz – Höppner mit seinem breiten Netzwerk zur Wirtschaft, Wissenschaft und Finanzbranche sowie Meyer als langjähriger Herzchirurg und habilitierter Mediziner am Deutschen Herzzentrum der Charité in Berlin – verhalf dem Duo zur erfolgreichen Gründung des Softwareunternehmens x-cardiac. Die Charité war nicht nur das Sprungbrett – das Start-up ist eine Ausgründung –, das Universitätsklinikum war auch der erste Kunde des ersten Produkts. x-cardiac wendet sich mit seiner KI-basierten Software nämlich explizit an Krankenhäuser und deren Intensivstationen: Die Software nutzt die Werte der Patienten, die ohnehin dauernd gemessen werden, gleicht sie mit anonymisierten Daten von knapp 50.000 Patienten ab, analysiert diese Informationen in Echtzeit – und kann so prognostizieren, ob Komplikationen zu erwarten sind. Ist dies der Fall, kann die Ärztin eingreifen, bevor Schlimmeres passiert.
Meyer wunderte sich bei seinen zahlreichen Visiten immer, dass so viele Werte gemessen, aber kaum analysiert werden. „Traten Komplikationen auf, hieß es meist, sie seien aus dem Nichts gekommen.“ Das stimme nicht. Probleme bahnen sich an, sagt er. Sofern man die „subtilen Muster“ dafür kenne, erkenne man auch die möglichen Folgen. Für Meyer, der aufgrund einer Ausbildung zum Fachinformatiker auch in IT-Fragen versiert ist, war es die Initialzündung, eine entsprechende Software zu entwickeln und ein Start-up zu gründen.
Mittlerweile ist das erste Medizinprodukt, x-c-bleeding, zugelassen und in mehreren Kliniken im Einsatz. Mit weiteren Krankenhäusern laufen Gespräche. x-c-bleeding erkennt mithilfe von Algorithmen in kürzester Zeit das Risiko von Nachblutungen im Anschluss an Herzoperationen. Sie treten bei rund fünf Prozent aller Patienten auf. Die zweite, erweiterte, Produktgeneration steht kurz vor der Zulassung. In Kürze soll eine Software auch Nierenversagen prognostizieren. Weitere Risikofaktoren bei Herzpatienten erforscht das elfköpfige Team derzeit. Ebenso will es seine Arbeit auf andere Fachbereiche, etwa die Gynäkologie, ausdehnen. Ein weiterer wichtiger Meilenstein für die Berliner Medtech-Szene – und bestimmt nicht der letzte.
Fotos: © Andrey Suslov / Shutterstock, © SphingoTec, © Berlin Partner
Text: Sabine Hölper
Datum: Mai 2024
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