Wie winzige Teilchen große Gewinne versprechen

Quantencomputer sollen viel schneller rechnen können als bisherige Supercomputer – und komplexe Aufgaben etwa in der Logistik, im Finanzwesen sowie in der Material- und Medikamentenforschung lösen. Beim Wettlauf der Hardwarehersteller sind deutsche Start-ups in einer guten Ausgangslage.

ES IST EIN DEFEKT IN DER ATOMAREN STRUKTUR MANCHER DIAMANTEN, um den herum Marius Grundmann und Jan Meijer ihr Unternehmen aufgebaut haben: In sogenannten NV-Zentren ist ein Kohlenstoffatom durch Stickstoff ersetzt, das Kohlenstoffatom direkt daneben fehlt. Dass sich das besondere Verhalten der Elektronen in dieser Konstellation nutzen lässt, sei eine alte Idee, sagt Grundmann, der aus Berlin kommt und an der Universität Leipzig Professor für Experimentalphysik und Halbleiterphysik ist. „Lange war man aber darauf angewiesen, diese Defekte in natürlichen Diamanten zu finden“, sagt er. „Wir haben ein Verfahren entwickelt, um sie künstlich mit hoher Ausbeute herstellen zu können.“

Geht es nach Grundmann, wird das Verfahren Teil einer technischen Revolution. Denn das vor drei Jahren gegründete Unternehmen SaxonQ baut um die speziellen Diamantchips Quantencomputer – Wunderrechner, die ganze Branchen umkrempeln könnten. Ein erstes Gerät hat SaxonQ an das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum verkauft. Im Sommer teilte das DLR mit, dass das Gerät alle Tests bestanden habe. „Natürlich ist das noch etwas für Experten“, sagt Grundmann. „Aber wer die Quantenprogrammierung beherrscht, kann damit schon rechnen.“

DAS POTENZIAL VON QUANTENCOMPUTERN beschäftigt Universitäten, Techfirmen und Industriekonzerne weltweit. Die Hoffnung: „Es werden Probleme lösbar, die algorithmisch sehr komplex sind und an denen heutige Supercomputer scheitern“, sagt Henning Soller, McKinsey-Partner in Frankfurt am Main und Leiter des Bereichs Quantum Technology Research. Banken könnten die neue Rechenpower nutzen, um Kreditrisiken besser zu bewerten. Logistiker könnten Routen und die Lagerhaltung optimieren. Daneben würden Unternehmen mit naturwissenschaftlicher Forschung profitieren. „Experimente und Versuchsreihen können viel umfassender als heute simuliert werden“, so Soller.

Viele Konzerne loten bereits Einsatzmöglichkeiten aus. Beispiel BASF: Quantencomputer würden den Entwicklungsprozess neuer Materialien und Formulierungen „disruptiv verändern und vor allem beschleunigen“, sagt Horst Weiß, Leiter des Forschungsteams Next Generation Computing beim Ludwigshafener Chemiekonzern. So ließe sich das Verhalten von Materialien, die Übergangs- oder Seltenerdmetalle enthalten, zuverlässiger vorhersagen. Relevant ist das unter anderem für die Autobranche, die an effizienteren Katalysatoren und Batterien forscht. Die Pharmabranche wiederum verspricht sich einen buchstäblichen Quantensprung für die Medikamentenentwicklung – und stellt personalisierte Arzneimittel in Aussicht.

Neue Produkte, effizientere Prozesse: Auf zwei Billionen US-Dollar bis zum Jahr 2035 beziffert McKinsey das Wertschöpfungspotenzial durch Quantentechnologien. Zwar sind heute abseits von Forschungsprojekten und Pilotversuchen noch keine Quantencomputer im kommerziellen Einsatz – doch im Monatstakt melden Technologiefirmen und Forscherinnen kleine und große Durchbrüche. „Wir rechnen damit, dass es noch fünf Jahre dauert, bis die Hardware im professionellen Umfeld eingesetzt werden kann“, sagt Soller. „Weitere fünf Jahre könnten vergehen, bis Entwicklungstools und die Integration in bestehende Systeme praxistauglich sind.“

QUANTENCOMPUTER FUNKTIONIEREN ANDERS als herkömmliche Computer, deren über Transistoren erzeugte Bits nur den Zustand „Strom aus“ (0) oder „Strom an“ (1) kennen. Für Berechnungen werden die Schaltkreise nacheinander angesteuert. Quantencomputer rechnen dagegen mit „Quantenbits“, kurz Qubits. Sie sind bei einer Messung ebenfalls in einem Zustand 0 oder 1; solange sie aber unbeobachtet sind, nehmen sie beide Zustände gleichzeitig an. Zur Veranschaulichung wird oft das Bild einer sich drehenden Münze bemüht: Sie ist gewissermaßen Kopf und Zahl gleichzeitig, bis die Bewegung gestoppt wird. Zusätzlich können Qubits miteinander verschränkt werden – in der Metapher würden mehrere Münzen an unterschiedlichen Orten dieselbe Bewegung vollziehen.

Entscheidend ist, dass viele Berechnungen gleichzeitig ausgeführt werden können. Die Leistung verdoppelt sich mit jedem Qubit: Lassen sich mit zwei Qubits vier Zustände gleichzeitig beschreiben, sind es bei drei Qubits bereits acht. Diese exponentielle Entwicklung führt dazu, dass schon bei zwanzig Qubits knapp eine Million Zustände nutzbar sind. Physikalisch können verschiedene quantenmechanische Systeme als Qubit dienen – einzelne Atome, Ionen, Photonen oder bestimmte Quantenzustände von Elektronen in Festkörpern oder supraleitenden Schaltkreisen.

„Welcher Ansatz sich am Ende durchsetzt, ist die 100-Billionen-Dollar Frage“, sagt Grundmann von SaxonQ. Für die eigene Technologie sieht er zwei Vorteile. Erstens können die Diamantprozessoren mit bei Halbleitern bewährten Verfahren hergestellt werden. Zweitens arbeiten die Rechner bei Raumtemperatur – anders als bei Supraleiter-Systemen, etwa dem von IBM, muss hier nicht der gesamte Prozessor mit riesigem Aufwand fast bis zum absoluten Nullpunkt heruntergekühlt werden. „Unsere Geräte können sehr weit miniaturisiert werden“, so Grundmann. Die aktuelle Generation habe die Größe eines Rollcontainers – irgendwann soll die Technik ins Smartphone passen. Der eigentliche Chip sei winzig, so der Gründer. Platz brauche die Peripherie – etwa die für die Messungen genutzten Laser und das Mikrowellengerät zur Steuerung des Systems.

WÄHREND DER AKTUELLE RECHNER von SaxonQ vier Qubits besitzt, sind Platzhirsche wie IBM bereits jenseits der 100 Qubits. Doch die Zahl der Qubits ist nur bedingt aussagekräftig, denn noch kommt es durch Umwelteinflüsse zu Rechenfehlern. „Aktuell lautet die Annahme, dass man eine Million Quantenbits braucht, um ein logisches Quantenbit zu erzeugen“, sagt McKinsey-Experte Soller. Diese Zahl werde aber sinken: durch Fortschritte bei der Hardware wie durch Verbesserungen in Fehlerkorrektur-Algorithmen. Dabei helfe auch künstliche Intelligenz, die ihrerseits durch Quantenrechner neue Superkräfte gewinnen werde.

Innovativen Start-ups attestiert die Unternehmensberatung gute Chancen im Wettlauf mit Techkonzernen, die den Druck hätten, ihre Technologien schnell zu vermarkten. Allein 2023 flossen weltweit 1,7 Milliarden US-Dollar in Quanten-Start-ups. Die Rahmenbedingungen in Deutschland bewertet Soller als gut, bei den öffentlichen Investitionen in die Technologie stehe Deutschland an zweiter Stelle nach China. Ein zentraler Akteur ist dabei das DLR, das im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums Quanten-Start-ups als Ankerkunde unterstützt.

EIN WEITERES STANDORTPLUS: „Die Verfügbarkeit von Talenten mit entsprechenden Studienabschlüssen ist ein großer Vorteil“, sagt Soller. Das Gründungsgeschehen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen nimmt zu. Planqc, ein Spin-off des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik und der Ludwig-Maximilians-Universität München, gilt als Vorreiter bei quantenoptischen Systemen. Auch abseits der Hardware wollen Wissenschaftlerinnen die Entwicklung vorantreiben. Dazu zählt das Software-Start-up Quantagonia, zu deren Gründern der Mathematikprofessor Sebastian Pokutta von der TU Berlin gehört.

Industrieunternehmen suchen die Nähe zu Hochschulen, wie das Beispiel BASF zeigt. Der Konzern arbeitet unter anderem in einem Verbund Forschungsprojekt mit den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Düsseldorf sowie Bosch und dem Karlsruher Start-up HQS Quantum
Simulations an Algorithmen für Quantencomputern. „Ziel dieses Vernetzungsprojekts ist die Etablierung einer zentralen Anlaufstelle für die Anwendung des Quantencomputing in Deutschland“, sagt BASF-Experte Weiß. Insgesamt müsse der Technologietransfer von der Forschung in die Industrieunternehmen aber noch verbessert werden.

AUCH DER BERLINER SENAT nimmt mit seiner Initiative „Berlin Quantum“ Geld in die Hand. Zehn Millionen Euro sind für Forschungsprojekte, die Förderung von Start-ups und Talenten sowie die Netzwerkbildung vorgesehen. Weitere 15 Millionen Euro gehen in die akademische Forschung – entstehen sollen unter anderem zwei neue Professuren und zahlreiche Mitarbeiterstellen an den Berliner Universitäten. „Da Quantentechnologien sehr forschungsgetrieben sind, kann der Standort Berlin die Entwicklung auf dem Gebiet gut voranbringen“, kommentiert Katharina Witte, Projektmanagerin Optik/Photonik bei der Wirtschaftsförderung Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie. Während andere Städte
klare Schwerpunkte beim Computing hätten, seien in Berlin auch verwandte Forschungsbereiche wie Sensorik oder Bildgebung stark ausgeprägt. Zudem gebe es viele Mittelständler mit Know-how etwa in der Mikroelektronik und Softwareentwicklung: „Wir können uns daher in Bezug auf Quantentechnologie ausgesprochen breit aufstellen.“ Das
klingt vielversprechend.

Aufmacherbild: © Marko Aliaksandr / Shutterstock
Fotos: © McKinsey, © BASF, © SaxonQ
Text: Steffen Ermisch
Datum: September 2024

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