Berlins Kreativwirtschaft steht deutschlandweit an der Spitze. In der Hauptstadt ist sie eine der fünf umsatzstärksten Branchen. Was die Szene starkgemacht hat – und was sie bedroht
ANFANG JULI FAND IN BERLIN DIE ELFTE AUSGABE der Positions Berlin Art Fair im Flughafen Tempelhof statt. Auf gut 12 000 Quadratmetern präsentierten sich mehr als 100 internationale Galerien aus 24 Ländern mit zeitgenössischer und moderner Kunst. An den vier Tagen wurden rund 30 000 Besucherinnen gezählt. Initiator Kristian Jarmuschek sagt: „Die Positions ist nicht nur eine Messe in Berlin, sondern eine Messe für Berlin.“ Außerdem sei sie – anders als vergleichbare vorherige Veranstaltungen – wirtschaftlich erfolgreich. „Andernfalls kämen die Galerien nicht zum elften Mal wieder.“
Jarmuschek ist einer von vielen Berlinern, die die hiesige Kreativwirtschaft vorantreiben. Der Kunstmarkt ist darin nur ein Teil. Zu den kreativen Branchen gehören auch die Musikwirtschaft, der Buchmarkt oder die Filmwirtschaft. Die mit Abstand größten Bereiche sind Software und Games, Design sowie Presse. Laut einer Erhebung der Initiative „Projekt Zukunft“, angesiedelt bei der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe, hat die Software- und Games-Industrie im Jahr 2021 fast 9,4 Milliarden Euro umgesetzt. Knapp 6200 Unternehmen aus diesem Bereich sind in Berlin angesiedelt. Zur Designwirtschaft gehören sogar mehr als 13 400 Unternehmen. Ihr Umsatz betrug im gleichen Jahr mehr als 7,2 Milliarden Euro. Das gesamte Cluster, zu dem allerdings auch der Bereich Informations- und Kommunikationstechnik (ITK) mit gut neun Milliarden Euro Umsatz zählt, erwirtschaftete vor drei Jahren knapp 44 Milliarden Euro. Die gingen auf das Konto von 42 000 Unternehmen (ohne ITK rund 40 000) mit 265 000 Erwerbstätigen. „Die Kreativwirtschaft zählt zu den Top fünf der umsatzstärksten Wirtschaftsbranchen Berlins“, sagt Jürgen Schepers, Kreativwirtschaftsexperte bei der Industrie- und Handelskammer Berlin. Sie stellt laut Projekt Zukunft mehr als ein Fünftel aller Unternehmen, erwirtschaftet einen Umsatzanteil von neun Prozent und beschäftigt etwa zwölf Prozent aller Erwerbstätigen in der Berliner Wirtschaft.
AUCH DER DEUTSCHLANDWEITE VERGLEICH zeigt die Stärke der Berliner Kreativwirtschaft. So sind elf Prozent aller deutschen Unternehmen in den Bereichen ITK, Medien und Kreativwirtschaft in Berlin ansässig. Dabei stellt die Hauptstadt nur etwa 4,5 Prozent der Bevölkerung Deutschlands. Besonders stark im deutschen Vergleich sind in Berlin die Rundfunk- und die Designwirtschaft mit einem Anteil von jeweils 17 Prozent, der Markt für darstellende Künste mit 21 Prozent sowie die Filmwirtschaft mit einem Anteil von 23 Prozent. Mehr als 5000 Filmund TV-Unternehmen mit gut 48 000 Mitarbeiterinnen haben ihren Sitz in der Hauptstadtregion. Sie sind für mehr als 300 Filmproduktionen pro Jahr verantwortlich.
Berlin ist zudem die stärkste deutsche Verlagsregion – mit rund 10 000 Publikationen jährlich sowie 160 Buch- und 260 Presseverlagen. Insgesamt zählt der regionale Buch- und Pressemarkt mehr als 3900 Unternehmen mit rund 18 000 Beschäftigten. Und Berlin ist auch die Hauptstadt der Buchhandlungen und Autoren: Sechzig Prozent der deutschen PEN-Mitglieder leben in Berlin. „Berlin ist die kreative Hochburg Deutschlands“, sagt Schepers, lediglich Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hamburg seien wettbewerbsfähig. Dass Berlin diesen Ruf verdient hat, zeigt sich auch an den vielen Branchengrößen, die an der Spree angesiedelt sind, und den Veranstaltungen, die hier stattfinden: Die Stadt ist Sitz von Universal Music Deutschland, Paramount, Wooga, Welt, DW-TV, rbb, Netflix und Sony Deutschland.
RENOMMIERTE EVENTS wie die Berlinale, der Deutsche Filmpreis, die Games Ground, die Berlin Fashion Week, die Berlin Art Week oder die re:publica finden hier statt. Aber nicht nur Medienkonzerne, Modelabels oder Rundfunkanstalten machen die Kreativszene der Hauptstadt aus. Auch die vielen kleinen Unternehmen und Soloselbstständigen mischen ordentlich mit. Erfolgreiche Modeschöpfer wie Esther Perbandt oder Kilian Kerner sind genauso Teil der Szene wie junge Nachwuchsdesigner. Für alle elf Teilmärkte der Berliner Kreativwirtschaft gilt das Gleiche: Die kleinen existieren neben den großen. Jeder findet seinen Platz. Und jeder trägt zum einzigartigen Berliner Spirit bei. Dieser formierte sich nach dem Mauerfall. „Das vereinte Berlin war ein Dorado für die Kultur“, sagt Schepers. „Von überallher kamen junge Menschen, um sich selbst zu verwirklichen.“ Das ging schon deshalb
leicht, weil das Leben in Berlin günstig war. Insbesondere die Mieten lagen auf einem sehr niedrigen Niveau. Außerdem war das Nachtleben spannend – ein Grund mehr für die jungen Leute, nach Berlin zu kommen.
DIE SUBKULTUR IST IN DER HAUPTSTADT NOCH IMMER AUSGEPRÄGT. Deswegen ist Berlin weiterhin ein Anziehungspunkt für Kreative aus der ganzen Welt. Hinzu kommt die ausgeprägte Wissenschafts- und Ausbildungslandschaft mit diversen Hochschulen und Forschungsstätten. Allerdings müssen die Kreativen heute bedeutend höhere Mieten finanzieren, was gerade für Neulinge nicht einfach ist. Andererseits treffen sie mittlerweile auch auf eine viel höhere Kaufkraft als vor zwanzig oder dreißig Jahren und damit auf einen ernst zu nehmenden Markt. „In den ersten fünf Jahren nach unserer Gründung im Jahr 1999 hatten wir keine Kunden in Berlin, sondern größtenteils aus dem süddeutschen Raum“, sagt Nicole Srock.Stanley, Geschäftsführerin der Kreativagentur dan pearlman. Danach habe Berlin sich sukzessive zu einem großen Wirtschaftsstandort entwickelt und somit auch Auftraggeber hervorgebracht.
Nicht nur dan pearlman, sondern auch viele andere einst kleine Unternehmen konnten deshalb groß werden. Ein weiterer Treiber war und ist die Digitalisierung. Sie hat vor allem der Games-Branche enormen Aufwind verschafft und aus kleinen Hinterhofbuden große Unternehmen werden lassen. Trotzdem lebt die Szene auch von Fördergeldern, vor allem die Filmbranche wird stark unterstützt. Schepers sagt dazu: „Fördergelder helfen dabei, innovative Projekte umzusetzen und so neue wirtschaftlich tragfähige Modelle aufzubauen.“ Die Unterstützung vonseiten des Landes Berlin sei „vorbildlich“. In der Tat ist Projekt Zukunft eigens dazu da, „für gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen der Kreativ- und Medienwirtschaft in Berlin zu sorgen“, sagt Tanja Mühlhans, die dort für Kreativ-, Medien- und Digitalwirtschaft zuständig ist. In der Praxis bedeutet das: Jährlich werden rund 110 Vorhaben, größtenteils Veranstaltungen der Kreativ- und Medienwirtschaft, kofinanziert. Über diverse Förderprogramme werden zudem rund 200 Einzelvorhaben bezuschusst. Insgesamt stellt der Senat rund 25 Millionen Euro pro Jahr bereit. Ferner fördert das Medienboard Berlin-Brandenburg die Kreativunternehmen mit rund 30 Millionen Euro, die Investitionsbank Berlin trägt 60 Millionen Euro bei, wenngleich größtenteils als Darlehen.
DAS SEI EINE MENGE, aber die Politik könne noch mehr tun, findet Srock.Stanley. Sie wünsche sich statt hoher Finanzspritzen vielmehr eine bessere Vernetzung der Szene. „Der Art Directors Club ist nach Hamburg gegangen, der Rat für Formgebung sitzt in Frankfurt am Main“, sagt sie. „Die Berliner Politik hat uns Kreative in der Stadt nicht so richtig auf dem Schirm.“ Zu zögerlich ist man ihrer Meinung nach vor allem beim Thema künstliche Intelligenz. Die Politik müsse hier regulatorisch eingreifen, fordert die Unternehmerin. Das Mindeste sei, analog zur Musikwirtschaft eine Art GEMA zur Wahrung der Urheberrechte zu etablieren. Jarmuschek indes sieht die größte Herausforderung darin, „Räume zu finden“. Die hohen Mieten führten mittlerweile dazu, dass internationale Künstler Berlin mieden und Mitarbeiter ihre zugesagten Stellen stornierten. Seine Hoffnung ist, dass eine offene Szene mehr offene Räume bekommt – bezahlbare Büros, Ateliers und andere Flächen. „Das ist die Freiheit, die es einst gab – und die wir wieder brauchen.“
Fotos: © Inga Israel
Text: Theresia Baldus + Illustration Inga Israel
Datum: September 2024
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