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KI im Gesundheitswesen: eine Chance auf Menschlichkeit

Bis ins hohe Alter gesund und vital zu bleiben ist die Hoffnung der meisten Menschen. Durch den Einsatz KI-basierter Technologien kommt die Medizin der Erfüllung dieses Wunsches immer näher.

Noch nie wurden so viele Menschen so alt wie heute. Seit den 1970er-Jahren stieg der Anteil der über 65-Jährigen in Deutschland um mehr als 50 Prozent. Im Schnitt nahm die durchschnittliche Lebenserwartung mit jedem Jahrzehnt um rund zweieinhalb Jahre zu – wobei Frauen statistisch gesehen das langlebigere Geschlecht sind. Längst ist es keine Seltenheit mehr, dass sich zwei Generationen gleichzeitig im Rentenalter befinden. Ein Bewusstsein dafür, was dies gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich, aber auch individuell bedeutet, entwickelt sich erst nach und nach.

Der Grund für das steigende Lebensalter liegt vor allem im wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in der Medizin. Nun hat eine neue Epoche begonnen – die Möglichkeiten des Gesundheitswesens werden in atemberaubender Geschwindigkeit durch künstliche Intelligenz erweitert. Kann die KI auch eine Rolle spielen, wenn es um eine gesunde Lebensführung bis ins hohe Alter geht?

Einer, der das ohne Zögern bejaht, ist der Essener Professor Jochen A. Werner, Buchautor, Gründer von 10×D und „Medical Influencer“. Er gilt als Vorreiter in Sachen Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen. Als ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen initiierte Werner bereits 2015 eine Digitalisierungsoffensive, deren Hauptziel es ist, den Menschen und die Menschlichkeit wieder ins Zentrum des Handelns zu rücken. Daran werde der Erfolg aller Maßnahmen rund um die digitale Transformation von Prozessen gemessen: „Durch die Digitalisierung von Prozessen sollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von administrativen Aufgaben entlastet werden, Mediziner sollen mittels KI bei Entscheidungen Unterstützung erfahren, um mehr Zeit zu haben für den direkten Patientenkontakt“, so Werner.

Darum spricht der Essener Professor auch nicht vom Smart Hospital, sondern verwendet vielmehr den Begriff Human Hospital – und das reicht über die Akutversorgung hinaus. Beispielhaft dafür nennt Werner, gerade mit Blick auf ältere Patienten, die Anbindung der Plattform Recare an die Essener Universitätsklinik. Recare hilft dabei, aus dem Krankenhaus entlassene Personen an einen von rund 1000 Pflegediensten und -heimen zu vermitteln.

© Prof. Dr. Jochen A. Werner

 

Von der Digitalisierung profitieren Menschen also bereits – ganz ohne künstliche Intelligenz. Digitale Prozesse bilden jedoch die Grundlage, Lösungen aus dem KI-Umfeld überhaupt entwickeln und nutzen zu können. Ein Forschungsteam der TU München entwickelt derzeit ein KI-Tool namens DeepMentia, das mithilfe von Deep-Learning-Algorithmen die frühzeitige Diagnose von Demenzerkrankungen verbessern soll. In der Universitätsmedizin Essen kommt künstliche Intelligenz über das dortige Institut für KI in der Medizin vielfach zum Einsatz: zur Diagnose bestimmter Lungenerkrankungen, für die Bewertung des Augenhintergrunds, Aufgabenfelder in der Kardiologie und Onkologie, die Früherkennung von Tumoren im Rahmen einer Darmspiegelung, die Vorhersage von Metastasierungen oder die KI-gesteuerte Prozessabfolge bei Schlaganfällen oder Thrombosen mit ihren Folgen.

So beeindruckend die Fortschritte in diesen medizinischen Bereichen sein mögen, Jochen A. Werner betont, dass KI auch Routineaufgaben übernimmt und beispielsweise bei der Dokumentation von Patientendaten unterstützt. Gerade dies schaffe den nötigen Freiraum, der letzten Endes den Menschen nutze – den Mitarbeitern ebenso wie Patienten und Angehörigen. „Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat jüngst vorgerechnet, dass Ärzte und Pflegepersonal täglich etwa drei Stunden mit Routinetätigkeiten, Dokumentation und Administration verbringen. Sie verplempern Zeit, in der sie sich der Betreuung und Behandlung von Patienten widmen könnten“, berichtet Werner. Er ist überzeugt: Jede halbe Stunde, die durch den Einsatz von digitalen Lösungen und KI gewonnen werden kann, schafft die Voraussetzung für mehr Menschlichkeit in der Gesundheitsversorgung.

All diese Überlegungen und Beispiele entspringen einer gewissen Logik. Anders, als die Bezeichnung Gesundheitswesen vermuten lässt, kommen Einrichtungen wie Krankenhäuser in der Regel erst dann ins Spiel, wenn Menschen nicht mehr gesund sind. „Die Krankenhäuser von heute sind Reparaturbetriebe“, sagt Werner. Gesundes Altern sollte jedoch über die Fähigkeit, Krankheiten mit fortschrittlichen Methoden menschenwürdig zu behandeln, hinausgehen. Deshalb wird das Thema Krankheitsprävention wichtig – in der Tat ist das Potenzial KI-basierter Tools bei der Vorsorgediagnostik und der Erstellung personalisierter Präventionsmaßnahmen immens. Im besten Fall wird das Wissen um eine gesunde Lebensführung frühzeitig vermittelt und umgesetzt. „In meiner Vision vom Krankenhaus der Zukunft begleiten Krankenhäuser den Menschen von der Geburt bis zum Tod und tragen mithilfe von KI dazu bei, dass Krankheiten so früh wie möglich erkannt werden, am besten bevor sie entstehen.“

Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, hat Werner gemeinsam mit Dr. Alexandra Jorzig und Dr. David Matusiewicz 10×D ins Leben gerufen – ein Ökosystem für das digitale Gesundheitswesen, in dem sich Start-ups und etablierte Akteure gleichermaßen vernetzen und austauschen können. Das Ziel des Thinktanks ist es, mit unterschiedlichen Formaten und Angeboten die Geschwindigkeit der digitalen Transformation in der Branche zu erhöhen. Warum hier Tempo geboten ist, wird klar, wenn man einen Blick auf die demografische Entwicklung wirft.

Im Jahr 2030 wird voraussichtlich jeder Vierte in Deutschland älter als 65 sein. Angesichts des schon heute herrschenden Pflegenotstands kommt den Themen gesundes Altern und Menschlichkeit im Gesundheitssystem eine zentrale Rolle zu. Konzepte wie Ambient Assisted-Living (AAL) versprechen Fortschritte vor allem hinsichtlich der Versorgungssicherheit. Bei AAL handelt es sich um die Kombination technischer Geräte: Sensoren in Türen, Fenstern, Lampen oder Teppichböden sind digital mit Systemen vernetzt, die die Geräte steuern und ihre Daten auswerten. Auf diese Weise sollen Stürze, aber auch veränderte Verhaltensweisen etwa von Demenzerkrankten erkannt werden. Mit AAL kann ein Haus oder eine Wohnung derart ausgerüstet werden, dass ältere und durch Krankheiten eingeschränkte Menschen möglichst lange sicher und eigenständig in den eigenen vier Wänden leben können. Die Unterstützung soll dabei „ambient“, also unauffällig im Hintergrund und kaum sichtbar sein.

Doch ohne ein Netzwerk aus Angehörigen, Pflegediensten oder Nachbarschaftshilfen bringt die Technik nicht viel. Neben Assistenzsystemen und Trends wie der Telemedizin gewinnt daher die Diskussion um den Einsatz intelligenter Robotik bis hin zu humanoiden Pflegerobotern an Bedeutung. Bei allem Enthusiasmus über das Tempo solcher Entwicklungen – jede technische Methode darf nur Mittel zum Zweck sein. Jochen A. Werner appelliert eindringlich zur Verknüpfung von KI mit Warmherzigkeit und Mitgefühl.

Jede noch so innovative Lösung setzt jedoch bei der Logik des Reparaturbetriebs an: Es werden Strategien entwickelt, mit Krankheiten besser umzugehen. Für viel entscheidender hält Werner die Fragen nach den grundsätzlichen Maßnahmen und Verhaltensweisen: Wie stellen wir ein langes, gesundes Leben sicher? Wie schaffen wir das Bewusstsein und die Bereitschaft dafür, sich rechtzeitig um die eigene Gesundheit zu kümmern?

Denn jeder Einzelne muss für sich entscheiden. Wann sollte ich mich spätestens aktiv um meine Gesundheit kümmern? Ab wann bin ich wirklich alt? Und was zeichnet eine langfristig gesunde Lebensweise aus? Der Medical Influencer Jochen A. Werner verweist auf die aus der Bibel abgeleitete Weisheit „Du erntest, was du säst“ und führt aus: „Wer zeit seines Lebens auf seine Gesundheit achtet – mit gesunder Ernährung, ausreichend Bewegung und möglichst dem Verzicht auf Alkohol und Nikotin, aber auch mit digitalen Hilfsmitteln wie Wearables –, der legt den Grundstein für ein gesundes Altern.“ Ohne eine gehörige Portion von natürlichem Grips wird es also auch im Zeitalter der künstlichen Intelligenz nicht gehen. 

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